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»Die Welt nach den Imperien«: Empire Statebuilding

Adom Getachews Buch untersucht die Weltordnung nach 1945 aus der Perspektive postkolonialer Staaten

  • Florian Geisler
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Globus ist das Symbol der Vereinten Nationen. Ein postkolonialer Kosmopolitismus blieb allerdings bis heute ein uneingelöstes Versprechen.
Der Globus ist das Symbol der Vereinten Nationen. Ein postkolonialer Kosmopolitismus blieb allerdings bis heute ein uneingelöstes Versprechen.

»Wir haben Deutschland besiegt, aber nicht seine Ideen«, kommentierte unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs der Soziologe und Vordenker des Panafrikanismus W. E. B. Du Bois die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco. Denn 1945 schien sich dort als Farce zu wiederholen, was bereits 1919 der Welt als Tragödie widerfahren war: Anstatt die systematischen, gesellschaftlichen Ursachen von Krieg und unendlichem Leid zu erkennen und zu bekämpfen, machten sich die Alliierten sofort daran, ihr altes Regime wieder aufleben zu lassen. Die großen Mächte hatten kein Interesse, den außer Kontrolle geratenen imperialen Wettlauf um die Ausbeutung möglichst großer Gebiete, Bevölkerungen und Ressourcenvorräte nachhaltig zu stoppen. Und an die Idee einer Selbstbestimmung der Völker, die als theoretisches Prinzip immer wieder in den höchsten offiziellen Dokumenten auftauchte, sahen sie sich in der Praxis keineswegs gebunden.

Dass es jedoch nach dem Krieg einfach so weiter gehen würde wie zuvor, war für viele Beobachter dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Der Schock zweier Weltkriege steckte den meisten Staaten in den Knochen und es schien nicht verrückt zu glauben, dass tiefgreifende Veränderungen wirklich möglich wären. Aus Sicht der vielen damaligen Kolonien handelte es sich tatsächlich um eine solche Umbruchsphase – eine Art Sattelzeit –, in der politisch vieles möglich schien, was letztlich aber vergessen oder verraten wurde. Welche Chancen gab es für eine alternative Weltordnung und woran ist sie gescheitert?

Fremdbestimmte Selbstbestimmung

In den letzten Jahren sind mehrere Beiträge erschienen, die diese verpassten Gelegenheiten aus Sicht der ehemaligen Kolonien aufgearbeitet haben. Zuletzt hatte David van Reybrouck mit »Revolusi« im Suhrkamp Verlag eine detaillierte Geschichte der Nationalbewegung Indonesiens vorgelegt. Darin betrachtete er den Zusammenhang zwischen der internationalen Abhängigkeit nach außen einerseits und dem Wettbewerb zwischen sozialistischen und nationalistischen Kräften im Inneren andererseits. Ebenfalls bei Suhrkamp ist nun das Buch »Die Welt nach den Imperien« der äthiopisch-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Adom Getachew erschienen. Sie erzählt darin jene Dialektik des Verfalls und der Erneuerung der alten Imperien aus Sicht mehrerer afrikanischer Länder. Berücksichtigt werden dabei Stimmen und Quellen aus etwa Nigeria, Äthiopien und Liberia, um nur einige zu nennen.

Aus diesen Blickwinkeln wird deutlich, dass der Begriff »Selbstbestimmung« unter der Ägide der großen Mächte ein zweischneidiges Schwert war und allzu oft gerade nicht Autonomie, sondern das Fortbestehen einer äußeren Einflussnahme der westlichen Mächte bedeutete. Um die Konjunktur dieser Selbstbestimmung richtig zu verstehen, muss man, so Getachew, an das Jahr 1917 zurückdenken. Es war schließlich kein anderer als Wladimir Iljitsch Lenin, der das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen auf die Tagesordnung setzte – und damit die westlichen Beobachter zum Rotieren brachte. Innerhalb der sozialistischen Bewegung existierte bereits eine lebendige Diskussion über den Sinn von bürgerlich-demokratischen Revolutionen. Diese führten schließlich oftmals zur Bildung von institutionell geschlossenen Nationalstaaten, also gerade nicht zu einem Internationalismus der Arbeiter*innen. Die demokratischen Staaten wurden dennoch als nötiges Durchgangsstadium auf dem Weg zum Sozialismus und vor allem als probates Mittel aufgefasst, die extreme Überausbeutung und absichtliche Unterentwicklung der Kolonien schnell zu beenden. Die 1919 nahezu überall aufflammenden antikolonialen Proteste sollten diese Sichtweise bestätigen.

Auch dem damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson blieb gar nichts anderes übrig, als das Prinzip der Selbstbestimmung in seinem berühmten 14-Punkte-Programm für die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung festzuschreiben. Getachew setzt sich mit den verschiedenen Quellen der Wilsonschen Politik, insbesondere aus dem amerikanischen Liberalismus, auseinander. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich der Bezug auf die nationale Selbstbestimmung nicht aus der liberalen Überzeugung, sondern nur als frühe Form der US-amerikanischen Eindämmungspolitik gegen den Kommunismus erklären lässt, ja ein regelrechtes »konterrevolutionäres Projekt« darstellt.

Der Begriff der Selbstbestimmung wurde von der Maschinerie des atlantischen Liberalismus bewusst in Anspruch genommen und so lange diskursiv gewendet, bis er nicht mehr im Widerspruch zu den imperialen Ambitionen der Großmächte stand. Fortan bedeutete »Selbstbestimmung« nicht mehr Gleichheit auf dem internationalen Parkett, sondern »die Schaffung paralleler Institutionen« – so die Worte Jan Smuts, dem Architekten des ungleichen Mandatsystems im Völkerbund und eine immens einflussreiche Figur bei der Ausarbeitung der Charta der Vereinten Nationen. Erst durch diese Umdeutung konnte etwa auch die staatsoffizielle Praxis der Apartheid ab 1948 in Südafrika paradoxerweise als Politik der Selbstbestimmung gelten.

Universalisierung des Nationalstaats

Diese Umdeutung der Selbstbestimmung vollzog sich laut Getachew vor dem Hintergrund eines verhängnisvollen Missverständnisses im Selbst- und Geschichtsbild des Westens. Im Liberalismus und selbst noch bei Vertretern der Kritischen Theorie wie Jürgen Habermas finde sich die Idee, dass Nation und demokratische Souveränität durchaus zusammengehören. Und zwar, wenn sich Staatsbürger*innen mit den lokal begrenzten Institutionen und deren Geschichte identifizieren würden, als gelingender »Verfassungspatriotismus«. Dieser sei eine valide Alternative zu den ethnisch begründeten Nationalismen, die sich nur durch Abwertung und Eroberung definieren.

Aus einer solchen Perspektive, so Getachew, erscheint der Kolonialismus dann mehr wie ein Unfall der Geschichte. Die Lösung bestünde entsprechend schon darin, die gelungene Gesellschaftsform des Verfassungs- und Nationalstaats einfach auf die ehemaligen Kolonialgebiete zu verpflanzen: »Nation-Building« zu betreiben. Verdrängt wird dabei natürlich völlig, dass auch die westlichen Nationalstaaten nicht einfach Ergebnis konstituierender Prozesse waren, die sich beliebig wiederholen ließen. Vielmehr waren und sind sie die politische Form der aufkommenden kapitalistischen Produktionsweise, die grundlegend auf eine immer neue, innere und äußere Landnahme angewiesen ist und sich deshalb auch nicht einfach institutionell einhegen lässt. Die Geschichte der Dekolonisierung, so die These Getachews, war auf Gedeih und Verderb mit dieser vom Westen betriebenen, falschen Universalisierung des Nationalstaats verbunden.

Mit dem Ende der klassischen imperialen Geografien – große Reiche, relative Mobilität, Aufstiegsmöglichkeiten – wurde sodann auch ein wichtiger Teil der kosmopolitischen Vorstellungswelt des damaligen Antikolonialismus verdrängt. Innerhalb großer Imperien sei es prinzipiell leichter vorstellbar, dass Politik und Menschen jenseits von Grenzen, also wirklich untrennbar aufeinander bezogen sind. Im Zustand des Imperiums ist es naheliegend, das Verhältnis von Peripherie und Zentrum als eine Form von Innenpolitik zu denken, anstatt es als geschiedene Bereiche gegenüberzustellen. In einer Welt dagegen, die in kleine, territorial begrenzte Nationalstaaten eingeteilt ist, herrscht Kleinmut vor: Die einzelnen Staaten würden lieber nicht in die inneren Angelegenheiten und Probleme anderer verwickelt werden und können leicht ignorieren, dass sie selbst diese Probleme erst erzeugt hat.

Die Folgen dieses Strategiewechsels der großen Mächte, sich nicht mehr als Empire, sondern als vereinte Nationen zu sehen, sehen und spüren wir laut Getachew bis heute – und zwar besonders in den Begriffen, in denen die internationale Ordnung gedacht und kritisiert wird. Getachew betont, wie sehr sich die Visionen des dekolonialen Kosmopolitismus der Nachkriegszeit, die unter dem Eindruck der bröckelnden Imperien entstanden, von dem kleinteiligen und uninspirierten methodologischen Nationalismus der heutigen Entwicklungspolitik unterscheiden.

Adom Getachews Buch entfaltet eine anspruchsvolle Vision für eine gegenwärtige politische Theorie der Dekolonisierung. Indem sie die verschiedenen ideologischen Phasen des antikolonialen Kampfes verständlich macht, liefert sie auch einen Schlüssel zur gegenwärtigen Situation. Eine kritische Theorie der internationalen Beziehungen kann viel von solcher Herangehensweise lernen, in der Geschichte nicht nur in ökonomischen Zahlen, sondern auch in Begriffen und Ideologien rekonstruiert wird. Wer den Übergang vom imperialen Zeitalter zum neoliberalen Empire verstehen will, kommt jedenfalls an der widerspruchsreichen Geschichte des antikolonialen Nationalismus nicht vorbei.

Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung. Suhrkamp 2022, 448 S., geb., 34 €.

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