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Skandal im Stimmbezirk

CDU im Wahlkreis Lichtenberg 3 jetzt neun Stimmen vorn, Linke fordert komplette Neuauszählung

Zählen, bis der Arzt kommt: Auch am Donnerstag wurden in Lichtenberg Stimmzettel nachgezählt.
Zählen, bis der Arzt kommt: Auch am Donnerstag wurden in Lichtenberg Stimmzettel nachgezählt.

»Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Es wäre schön, wenn es einfach mal vorbei ist«, sagt Mandy Heimer am Donnerstag entnervt. Sie ist Mitarbeiterin der Linke-Politikerin Claudia Engelmann, die 2021 im Wahlkreis Lichtenberg 3 direkt ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Bei der Wiederholungswahl am Sonntag verlor Engelmann ihr Mandat anscheinend mit zehn Stimmen Rückstand auf ihren CDU-Herausforderer Dennis Haustein. Dann tauchten am Montag 466 bislang nicht berücksichtigte Briefwahlunterlagen auf. Diese eingerechnet, gab es zwischen Engelmann und Haustein zwischenzeitlich ein Patt. Beide hatten je 4243 Stimmen. Entscheiden müsste in einem solchen Fall das Los. Aber so weit ist es noch nicht.

Am Donnerstagmorgen zählten an der Egon-Erwin-Kisch-Straße elf Wahlhelfer des Bezirkswahlamts Lichtenberg noch einmal alle Stimmzettel aus, die am Sonntag im Wahllokal 333 in der Adam-Ries-Grundschule abgegeben worden waren. Denn hier vermerkt das Protokoll eine auffällige Abweichung: Es waren angeblich mehr Zweitstimmen für die Parteien abgegeben worden als Erststimmen für die Direktkandidaten. Das kann theoretisch sein. Es gibt zumindest Berichte von Wählern, die den Stimmzettel für die Erststimme aufgrund der Zusammenfaltung der Zettel für eine Art Umschlag hielten, der dann unausgefüllt in die Urne wanderte. Aber bei auffälligen Abweichungen empfiehlt sich eine Nachzählung. Das geschieht in Raum 2.22 auf der Etage des Lichtenberger Wohnungsamts.

Die Wahlhelfer nehmen dabei unter Leitung des stellvertretenden Bezirkswahlleiters Thomas Zeidler alles akribisch unter die Lupe und kommen nach anderthalb Stunden zu dem Ergebnis: Es wurden am Sonntag in der Adam-Ries-Schule nicht 60 Stimmen für CDU-Kandidat Haustein abgegeben, wie irrtümlich im Wahlprotokoll vermerkt, sondern 70.

Andererseits ergab die Begutachtung der als ungültig gewerteten Stimmen, dass der Linke-Kandidatin Engelmann ein Kreuz mehr hinter ihrem Namen zuerkannt werden muss als im Protokoll vermerkt. Offenbar war ein Wähler oder eine Wählerin in der Spalte verrutscht und hatte erst Jette Nietzard (Grüne) angekreuzt. Er oder sie merkte das, strich dieses Kreuz durch und setzte ein neues bei Engelmann. Die Zählkommission entscheidet: Der Wählerwille sei klar erkennbar, die Stimme zählt.

Unter dem Strich wäre trotz allem wieder Dennis Haustein von der CDU mit neun Stimmen im Vorteil und würde ins Abgeordnetenhaus einziehen. »Erstmal Erleichterung«, beschreibt Benjamin Hudler seine Gefühle. Er ist CDU-Vizefraktionschef in Lichtenbergs Bezirksverordnetenversammlung und beobachtete die Neuauszählung genauso wie Engelmanns Mitarbeiterin Mandy Heimer. Entschieden ist die Sache noch nicht. »Uns ist klar, dass da noch was nachkommt«, sagt Hudler. Die Linke werde sicher die Neuauszählung sämtlicher Erststimmen im Wahlkreis fordern.

Genau das verlangt Linke-Landesgeschäftsführer Sebastian Koch. Das Hin und Her sorge für unnötige Verwirrung, argumentiert er. »Das Vertrauen in die Organisation der Wahlen droht erneut zu leiden.« Es sei »rechtlich möglich und organisatorisch wie politisch dringend geboten«, alle Stimmen im Wahlkreis nachzuzählen – so wie 2021 beispielsweise im Wahlkreis Pankow 3 bei einem Abstand von 30 Stimmen.

Koch beruft sich auf das Bundesverfassungsgericht, das 1991 ein knappes Ergebnis mit 22 Stimmen Unterschied für ausreichend befunden habe, in einem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkreis komplett neu auszählen zu lassen. Im aktuellen Fall könnte Die Linke Beschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof einlegen.

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