Erneut ein verfassungswidriges Gesetz?

Gesellschaft für Humanes Sterben: Kein inflationärer Andrang von Suizidbedürftigen

  • Christa Schaffmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Unter welchen Bedingungen sollten todbringende Medikamente zugänglich sein? Auch das wäre gesetzlich zu klären.
Unter welchen Bedingungen sollten todbringende Medikamente zugänglich sein? Auch das wäre gesetzlich zu klären.

Binnen weniger Wochen soll es eine Zweite und Dritte Lesung der Gesetzentwürfe zur Regulierung der Suizidhilfe im Bundestag geben. Die Sorge vieler Menschen, die das vor mehr als zwei Jahren verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts begrüßt haben, ist groß. Denn noch immer ist nicht auszuschließen, dass der Entwurf einer Gruppe um den SPD-Bundestagsabgeordneten Lars Castellucci eine Mehrheit bekommt.

Mit Castelluccis Entwurf bekäme Deutschland die Wiedereinführung eines Paragrafen 217 (der in ähnlicher Form vom Bundesverfassungsgericht 2020 als verfassungswidrig gekippt wurde), ein Verbot der organisierten Freitodbegleitungen und nur eng definierte Ausnahmen. Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), nannte diesen Entwurf in einer Pressekonferenz am Mittwoch indiskutabel. »Es gehört schon viel Ignoranz, Beratungsresistenz und ideologische Verblendung dazu, eine als bereits verfassungswidrig und nichtig erklärte Strafrechtsnorm ein zweites Mal gesetzlich implementieren zu wollen«, so Roßbruch. Für den Fall, dass Castellucci dennoch eine Mehrheit bekommt, hält Roßbruch es für möglich, dass Karlsruhe sich das nicht bieten lässt und es sofort zu einer einstweiligen Anordnung kommt und das Gesetz schwebend unwirksam wird.

An der skeptischen Sicht auf die anstehende Bundestagsentscheidung ändert auch die Arbeit der Gruppen um die Abgeordneten

Katrin Helling-Plahr (FDP) und Petra Sitte (Linke) sowie jener um Renate Künast (Grüne) an einem gemeinsamen und dadurch aussichtsreicheren liberalen Entwurf nichts.

»Wir halten eine erneute Gesetzgebung nicht für zwingend erforderlich«, sagt Roßbruch. Dies habe seinerzeit auch das Bundesverfassungsgericht so gesehen, denn es hat den Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet, ein wie auch immer geartetes Suizidhilfegesetz zu verabschieden. Für Ärzte gebe es schon jetzt in Deutschland einen eindeutigen rechtlichen Rahmen, wenn sie bei einem wohlerwogenen und selbstbestimmten Suizid eines ihrer Patienten assistieren. Organisationen, die Freitodbegleitungen anbieten oder vermitteln, arbeiten überprüfbar, da sie nach jeder Freitodbegleitung die örtlich zuständige Kriminalpolizei informieren, die dann ein förmliches Todesermittlungsverfahren einleitet.

Die DGHS beobachtet eine steigende Zahl von Antragstellern für eine Freitodbegleitung (etwa 50 monatlich), nicht zuletzt weil sie einer nicht notwendigen, vom Verfassungsgericht auch nicht geforderten Gesetzgebung zuvorkommen wollen – selbst, wenn dafür das Leben früher als geplant beenden werden muss. Dazu trägt auch die im alternativen Entwurf von Helling-Plahr enthaltene Beratungspflicht für jeden Antragsteller bei.

Ein ganzes Weißbuch über Freitodbegleitung in den Jahren 2020/2021 mit detaillierten Schilderungen der Fälle macht deutlich, was für Menschen aus welchen Gründen den Weg der Freitodbegleitung gehen. Roßbruch betont, ihr Wunsch nach dem Freitod habe sich in der Regel nicht aus einem pathologisch geprägten, aus Verzweiflung erwachsenen Suizidbedürfnis entwickelt. Das alles wären keine ad-hoc-Suizidenten. »Sie alle haben, wenn ihnen dazu die Zeit blieb, lange und immer unter Abwägung vieler Aspekte ihre Entscheidung getroffen. Sie wissen, dass sie das Recht darauf haben und sich nicht Fragen nach den Gründen und Vorträge über Alternativen anhören müssen; Karlsruhe hat in seinem Urteil an keiner Stelle eine Beratungspflicht erwähnt.«

Roßbruch stellt zudem die Praktikabilität einer flächendeckenden Beratungspflicht infrage. Die nötige Infrastruktur dürfte nicht zeitnah zur Verfügung stehen. »Was passiert in der Zwischenzeit mit den Menschen, die eine organisierte Freitodbegleitung für die ihrem Selbstbild am ehesten entsprechende Option halten?« Gerade die über 70-Jährigen – die größte Gruppe der Antragsteller – habe oft nicht mehr die Zeit, monatelang auf eine solche Beratung zu warten oder sei physisch nicht mehr in der Lage, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Für sie kommt die Pflichtberatung dem Verbot der Freitodbegleitung gleich.

Die DGHS hatte Gelegenheit, zwei Jahre lang Menschen zu begegnen, die selbstbestimmt und mit ärztlicher Hilfe sterben wollen. 2022 gab es insgesamt 630 Antragsteller; durchgeführt wurden 227 Begleitungen, einige starben, einzelne Anträge wurden abgewiesen. Von einer inflationären Entwicklung, wie sie einige Abgeordnete prognostizieren, kann also keine Rede sein. Trotzdem waren eine personelle Verstärkung der DGHS etwa mit Psychologen und ein Umzug in größere Räume dennoch dringend nötig. Zurzeit hat die Gesellschaft außerdem 16 Teams in Deutschland, jeweils aus einem Arzt und einem Anwalt bestehend. Die Mediziner sind auf die DGHS zugekommen; es bedurfte keiner Inserate. Es handele sich mehrheitlich um erfahrene, oft schon ältere Ärzte.

Während der Pressekonferenz präsentierte die DGHS auch eine Reihe statistischer Daten. So sind 37 Prozent der Antragsteller Männer, 63 Prozent Frauen. 25 Prozent gehören der Altersgruppe zwischen 70 und 79 Jahren an, 37 Prozent der Gruppe zwischen 80 und 89 Jahren, gefolgt von den 90- bis 99-Jährigen mit 18 Prozent. Die Statistik zu den Bildungsabschlüssen korrigierte die oft verbreitete Meinung, es handele sich bei den Suizidwilligen eher um arme und weniger gebildete Menschen (die man deshalb auch finanziell beraten und über medizinische Angebote aufklären müsse). Mit 38 Prozent führen Hochschulabsolventen die Statistik an, gefolgt von Menschen mit Realschulabschluss (23 Prozent). Bei den Beweggründen liegen mit 26 Prozent mehrfache Erkrankungen vorn, an dritter Stelle Krebs mit 18 Prozent und schließlich Lebenssattheit mit 17 Prozent.

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