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Wenn Zähne sich selbst amputieren
Entzündungen als Schnittstelle: Diabetes und Parodontitis sollten gleichzeitig behandelt werden
Die Mundhöhle ist kein isoliertes System, sondern steht in enger Wechselwirkung mit der allgemeinen Gesundheit. Besonders Entzündungen haben die Dentisten aktuell im Fokus, wie der 4. Gemeinschaftskongress der zahnmedizinischen Fachgesellschaften am Wochenende in Berlin zeigte. Hier wurde unter anderem mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit gefordert.
Zunächst konnte Positives resümiert werden. Wie kaum eine andere ärztliche Sparte können die Zahnärzte tatsächlich Präventionserfolge aus den letzten Jahrzehnten verbuchen: Die sechste Mundgesundheitsstudie, die in diesem Frühjahr vorgestellt wurde, konnte positive Trends aus den Vorgängerstudien fortschreiben.
Erfasst wurden dafür Daten aus den Jahren 2021 bis 2023. Demnach sind heute zum Beispiel 80 Prozent der Kinder kariesfrei, wie Rainer Jordan vom Institut der Deutschen Zahnärzte in Köln erläuterte. Eine flächendeckende Gruppen- und Individualprophylaxe seit Ende der 80er Jahre hat dafür den Grundstein gelegt. In der Folge hat sich sogar die Karieslast der Erwachsenen halbiert. Den 35- bis 44-Jährigen fehlt im Schnitt erst ein Zahn. Die gleiche Altersgruppe musste 1990 mit fünf Zähnen weniger klarkommen.
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Auch in der Gruppe der jüngeren Senioren (65- bis 74-Jährige) gibt es einen Wandel: Wirklich zahnlos sind aktuell nur 5 Prozent, 2014 waren es mit 12,4 Prozent mehr als doppelt so viele Menschen. Im Schnitt fehlen den Personen in der Gruppe jetzt 8,6 Zähne, 2014 waren es 16,4 Zähne. Weniger stark war der mittelfristige Rückgang bei der Zahl der Zähne mit Parodontitis: Der Anteil der von diesen Entzündungen betroffenen Zahnflächen hält sich bei 24,2 Prozent, 2014 waren es 26,4 Prozent. Liegen dann auch Wurzelflächen frei, können diese von Karies befallen werden. Während das Phänomen bei 14 Prozent der jüngeren Erwachsenen auftritt, sind die jüngeren Senioren schon zu fast 60 Prozent davon betroffen.
Etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer schweren Parodontitis.
Mit der Parodontitis ist eines der aktuellen Probleme der Zahnmedizin aufgerufen – oder sogar der Oralmedizin. Einen solchen Begriffswandel halten etliche Dentisten für sinnvoll, und zu der Zahnfleischerkrankung würde sie passen. Laut Henrik Dommisch von der Berliner Charité ist eine fortgeschrittene Zahnfleischentzündung nicht nur ein lokales Problem, sondern rufe eben durch Bakterien aus der Mundhöhle auch Entzündungsreaktionen in anderen Körperteilen hervor, wenn diese in den Blutkreislauf gelangen.
Die Zähne wiederum ragen aus dem Knochen in eine bakterienreiche Umgebung, die Grenzfläche ist nur durch ein dünnes Gewebeband geschützt. Aber diese Barriere kann durch ein verändertes Mikrobiom, durch Diabetes oder Rauchen geschwächt werden. Kommt es zu einer stärkeren Entzündung an dieser Stelle, verstärken Bakterien und Botenstoffe andere Krankheitsherde im Körper, unter anderem bei Rheuma oder bei Diabetes mellitus. Ohne Therapie wird dann auch der zahntragende Knochen angegriffen. »Am Ende amputierten sich die Zähne bei fortgeschrittener Parodontitis quasi selbst«, so Zahnmediziner Dommisch. »Sie fallen aus, damit die Integrität der Körperoberfläche wiederhergestellt werden kann.«
Damit es nicht so weit kommt, sollte die Parodontitis therapeutisch zurückgedrängt werden. Gründliche Mundhygiene und regelmäßige Kontrolle sind die Basis dafür, weiter geht es mit der Entfernung von Zahnbelag und Zahnstein und der Glättung der Zahnoberflächen. Auch Medikamente und chirurgische Eingriffe können eingesetzt werden.
Besonders durch eine Parodontitis gefährdet sind zum Beispiel Diabetiker. Über 6000 wissenschaftliche Publikationen haben hier Zusammenhänge belegt, die 2024 in eine medizinische Leitlinie zum Thema mündeten. Zudem mahnt die große Zahl der jeweils Betroffenen zum Handeln: In Deutschland leben 9,1 Millionen Menschen mit Diabetes und etwa 14 Millionen leiden an einer schweren Parodontitis. Andererseits verbessert sich mit einer erfolgreichen Parodontitistherapie nachweislich der Blutzuckerspiegel. Und ebenso ist bei einer gut eingestellten Diabetes auch das Zahnfleisch gesünder.
In der Praxis wird diese Verbindung jedoch erst selten hergestellt. Zwischen Medizin und Zahnmedizin gebe es in dieser Frage noch keine Überweisungskultur, wurde auf dem Berliner Kongress kritisiert. Zwar würden Diabetiker schon routinemäßig an Augen-, Nieren- und Herzmediziner überwiesen, in Richtung der Zahnärzte funktioniere das noch nicht.
Auch andersherum, vonseiten der Zahnärzte, gibt es höchstens Empfehlungen an die Patienten, Auswirkungen einer schlechten Mundgesundheit ernster zu nehmen. So geben sich auch Internisten schon mit kleinen Schritten zufrieden: Im blauen »Gesundheits-Pass« Diabetes, den es auch als App gibt, ist immerhin ein Feld frei für eine jährliche Untersuchung auf Parodontitis. Darüber hinaus mahnt Stoffwechselexperte Knut Mai von der Berliner Charité die zahnärztlichen Kollegen an, die Risikopatienten anderer Fächer zu erkennen und die nötige Versorgung zu unterstützen.
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