Der Großmeister und die Bauern

Was ist dran an der These vom Stellvertreterkrieg in der Ukraine?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor einem Monat versetzte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Experten ihres Amtes in Aufregung und Partner im Kanzleramt in Panik, als sie vorm Europarat erklärte: »We are fighting a war against Russia and not against each other.« (Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.) Eigentlich wollte Baerbock die Einigkeit des übergroßen Teils von Europa betonen, der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Aggression beizustehen. Doch nicht nur in Moskau vernahm man vor allem den ersten Teil des Satzes: Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland …

Wer ist wir? Die Europäische Union? Die Nato? Oder die westliche Wertegemeinschaft? Das Auswärtige Amt ließ nichts unversucht, um den Satz seiner Chefin als verkürzte Darstellung oder Versprecher ins Grau der Politik zu drängen. Kanzler Olaf Scholz eilte sich zu betonen, man sei nicht Kriegspartei und weder Deutschland noch die Nato würden sich in die Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Kiew hineinziehen lassen.

Zu spät. Für Russlands Uno-Botschafter Wassili Nebensja dient Baerbocks Äußerung als Beweis dafür, dass die Nato »einen Stellvertreterkrieg gegen Russland« führe. Auch Politiker anderer Staaten, sogar solcher, die der Nato angehören, reagierten irritiert. Der kroatische Präsident Zoran Milanović beispielsweise versicherte, er werde kein »Sklave Amerikas« sein, sondern wolle sein Land aus dem Krieg heraushalten.

Was ist ein Stellvertreterkrieg? Der Vergleich mit dem Schachspiel bietet sich an, bei dem ein Großmeister seine Bauern, Springer und Läufer aufmarschieren lässt, um einen anderen Großmeister matt zu setzen. Übersetzt ins Politische: Ein Staat, in aller Regel eine Großmacht, führt nicht selber Krieg, sondern delegiert Mord und Totschlag an eine oder mehrere andere Nationen. Bisweilen reichen Rebellengruppen. Wichtig ist, dass man die Kontrolle über »seine« Krieger behält.

Während im Kalten Krieg das »Gleichgewicht des Schreckens« eine direkte Konfrontation der Großen bis hin zum Atomkrieg verhinderte, kam es in anderen Teilen der Erde immer wieder zu Stellvertreterkriegen. Man denke an Korea, Vietnam oder die Kuba-Krise. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist der Jemen. Die sunnitischen Staaten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate kämpfen dort gegen die schiitische Huthi-Miliz, die vom Iran unterstützt wird.

Tatsache ist: Diverse US-Regierungen haben versucht, den Einfluss des Westens auf extrem aggressive Art zu sichern oder auszudehnen. Und die Mächtigen in Moskau standen ihnen kaum nach. Handelt es sich beim Krieg in der Ukraine auch um einen Stellvertreterkrieg? Aus Moskauer Sicht hat die Frage keinen Sinn. Absurd ist auch die Ansicht, der Westen habe Putin eine Falle gestellt und in den Krieg »gelockt«. Es waren Putin und seine Getreuen, die die Existenz der Ukraine bedrohten und bereits mit der Annexion der Krim sowie den Aufständen in den östlichen Landesteilen ignorierten.

Und wie ist das mit der Ukraine? Immerhin unterstützen USA, Nato und EU das Land im Kampf gegen Russland, den ewigen Widersacher des Westens. Und nicht nur Ministerin Baerbock gab Überlegungen zum Thema Stellvertreterkrieg Nahrung. Beim Drängen nach neuen Waffensystemen machte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Land selbst zu einer Art »Bauern«, der die westlichen Demokratien vor Moskaus Terror schützt. Dem »Spiegel« sagte er: »Wenn die Russen erst mal an eurer Grenze stehen, werdet ihr das Leben eurer Leute opfern müssen. Deshalb ist das, was die Ukraine heute tut, für euer Land günstiger.« Wer jedoch annimmt, die Ukraine sei nur Spielball der Mächtigen, irrt. Das angegriffene Land kämpft vor allem ums eigene Überleben. Dabei die – wie immer begründete – Unterstützung anderer anzunehmen, ist ein selbstverständliches Recht. Der Einwand, der Westen habe die Ukraine seit Jahren instrumentalisiert, ist nicht falsch. Doch das geschah im Einvernehmen mit den in Kiew Regierenden und großen Teilen der Bevölkerung, die ihre Zukunft eher westlich ausrichten wollten.

Tatsache bleibt: Die Ukraine ist seit dem Zerfall der Sowjetunion ein souveräner Staat und die UN-Charta enthält das Prinzip der territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit von Staaten.

Jenseits der Debatte über einen möglichen Stellvertreterkrieg stellt sich die Frage: Ab wann wird man als Kiews Unterstützer zur Kriegspartei? Aus Moskauer Sicht sind Nato und Deutschland das längst. Putins Propagandisten senden das Gefühl aus, Russland sei vom Westen angegriffen worden und müsse nun die »Faschisten« bis Berlin zurücktreiben. Wie einst im Großen Vaterländischen Krieg. Die Methode, sich als Verteidiger der Menschheit darzustellen, ist nicht neu. 2003 griffen die USA den Irak an, weil das Regime von Saddam Hussein angeblich die Welt bedrohte. Als Kriegsgründe verteilte man faustdicke Lügen über ein angebliches irakisches Biowaffen-Programm.

Deutschland steht hinter den USA quantitativ und qualitativ an der Spitze jener, die der Ukraine bei der Versorgung mit militärischem Gerät, bei der Ausbildung von Soldaten sowie mit viel Geld beistehen. Das ist eine deutliche Parteinahme. Doch im Krieg, so die vorherrschende Meinung im Westen, sei man erst dann, wenn US- oder Nato-Truppen Schläge gegen russische Truppen, russisches Gebiet oder die russische Bevölkerung führen. Das ist Sicherheitspolitik auf der Rasierklinge. Mit jeder Woche, die der Krieg dauert, wächst die Gefahr einer Eskalation und nicht der Westen allein entscheidet darüber, ob, wann und wie der Krieg über nationale Grenzen hinwegspringt. Was, wenn die Ukraine – dank westlicher Waffenlieferungen – Putin so in die Ecke drängt, dass der Kremlherrscher nur noch die angedrohte Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes sieht? Wie klein die nukleare Bombe auch immer wäre, ihre Zündung hätte zwangsläufig eine Reaktion der USA und der Nato zur Folge. Dann wäre man endgültig im Krieg angekommen. Ob es nach der Reaktion auf diese Reaktion für Europa noch einen Tag danach gibt, ist ungewiss.

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