Kunststück im Krieg

Ukrainische Zirkuskinder trainieren in Potsdam

Die jungen Artisten können aufeinander bauen – und stehen!
Die jungen Artisten können aufeinander bauen – und stehen!

Das ist kein Wanderzirkus. Das Zelt steht schon lange am Rande des Volksparks Potsdam in der Hermann-Kasack-Straße. 25 Jahre zurück reicht die Geschichte des Sportvereins Circus Montelino, obwohl die offizielle Gründung erst später erfolgte. In verschiedenen Turnhallen der Stadt Potsdam trainieren die Mitglieder, darunter sehr viele Kinder und Jugendliche ab fünf Jahren, aber auch Erwachsene. Es gibt sogar Kurse für Senioren. Die Nachfrage ist groß. Es stehen mehr als 200 Kinder auf der Warteliste. 450 Kinder haben einen Platz ergattert. »Wir betteln schon sehr lange bei der Stadt um mehr Hallenzeiten«, berichtet Geschäftsführer Bileam Tröger. Es drängeln sich zu den artistischen Übungen bis zu 50 Kinder pro Sporthallen-Hälfte. »Viele klagen: zu eng, zu laut«, weiß Tröger. »Aber wir machen es, weil der Bedarf so groß ist.«

Zwei Zirkuszelte besitzt der Verein. Eins stand nebenan im Volkspark, ist aber nun abgebaut, weil die Vereinbarung zur kostenlosen Nutzung der Fläche abgelaufen ist. Jetzt im Winter ist das egal. Da wird in der Regel fürs Training nicht einmal das andere Zelt auf dem Vereinsgelände benutzt. Es zu heizen, ist bei den gegenwärtigen Energiekosten sehr teuer. Zwar steht der Verein finanziell so gut da, sich das theoretisch leisten zu können. »Aber es fühlt sich nicht richtig an«, erklärt Tröger mit Blick auf den Klimaschutz.

Nur ausnahmsweise trainieren 13 Mädchen und ein Junge am Donnerstagabend in der Manege. Brandenburgs Integrationsbeauftragte Doris Lemmermeier und ihre Potsdamer Amtskollegin Amanda Palenberg sind zu Besuch und bekommen vorgeführt, was die Kinder und Jugendlichen draufhaben. Das Interesse der Integrationsbeauftragten kommt nicht von ungefähr. Denn Montelino hat 21 junge Artisten aus der Ukraine mitsamt Angehörigen aufgenommen. Sechs Mädchen sind in der Gruppe, die gerade mit Trainer Perry Rudolph Kunststücke übt. Russische, englische und deutsche Worte fliegen bunt gemischt durch die Manege. So zählt Rudolph »ras, dwa, drei«, bevor er die kleine Nastja hochstemmt.

Es gab kurz nach dem russischen Angriff vor einem Jahr einen Aufruf der Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik, die wiederum von Kiew um Hilfe gebeten wurde. Es kamen vor allem Menschen aus der ukrainischen Hauptstadt, aber zum Beispiel auch ein Mädchen aus Charkiw. Zöglinge einer staatlichen Artistenschule in Kiew, die ihren unterbrochenen Lehrbetrieb inzwischen wieder aufnahm, sind größtenteils zurückgekehrt. Sie hätten andernfalls ihre noch freigehaltenen Plätze aufgeben müssen, erläutert Tröger.

In Potsdam geblieben sind die Schüler einer privaten Kiewer Artistenschule. Sie leben teils noch bei den Familien ihrer deutschen Trainingspartner, die sie provisorisch aufgenommen haben, oder in Asylheimen. Erst für zwei Familien konnten eigene Quartiere gefunden werden. In Potsdam herrscht Wohnungsnot. »Wenn du bei der Besichtigung als Ukrainer alleine bist, hast du leider keine Chance. Du brauchst einen dabei, der für dich spricht«, bedauert Bileam Tröger. Er selbst lebt mit zwei Töchtern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und hat eine ukrainische Mutter mit Kind aufgenommen. Alle Bemühungen, ihnen ein eigenes Heim zu verschaffen, sind bislang fehlgeschlagen.

Dennoch sei es für die Zirkuskinder nicht ganz so hart wie für andere ukrainische Flüchtlinge, denn sie sind wenigstens von Anfang an bei Montelino eingebettet. Die Ukrainer und die Deutschen haben voneinander gelernt. Die einen sprechen schon recht passabel Deutsch, die anderen zumindest einige Brocken Russisch. Anfangs wollte die eine oder andere Ukrainerin zurückgezogen in einer Ecke ihre Dehnungsübungen machen. Sie dachte: Wieso Deutsch lernen und sich integrieren? Es geht ja doch bald zurück in die Heimat! Doch Bileam Tröger meinte: »Wir machen hier kein Leben auf Pause.« Er findet: »Es hat sich gelohnt.« Einige können sich inzwischen eine Perspektive in Deutschland vorstellen – aber besser noch ein Engagement als Zirkusartist »in der ganzen Welt«, wie die ukrainischen Mädchen den beiden Integrationsbeauftragten erzählen. Den sehnlichsten Wunsch können die ihnen aber nicht erfüllen: Eigene vier Wände. »Wir können euch vieles mitbringen, aber leider keine bezahlbare Wohnung«, seufzt Lemmermeier. Palenberg beteuert, die Stadt tue ihr Möglichstes, aber das brauche seine Zeit.

Vielleicht klappt es, zum Erfahrungsaustausch den Besuch in einem anderen Zirkus zu organisieren. Daran wäre der 14-jährigen Yeva gelegen. Besonders anfangs war es schwer für sie in Potsdam. In der Ukraine besuchte sie schon die 9. Klasse, wurde aber in Potsdam in eine 8. Klasse zurückgestuft. Dort ist sie jetzt die Älteste, und das findet sie nicht so gut. Das Leben in der Fremde – fällt es ihr jetzt schon leichter? »Da, kanjeschno«, antwortet sie ohne Zögern. (Ja, natürlich!) Der bewegendste Moment für Yeva war ihr erster Auftritt in Deutschland. »Der erste Applaus hier, das war sehr aufregend für mich«, erzählt sie.

Bei der 20-jährigen Trainingskameradin Tabea zu Hause wohnen eine Ukrainerin und deren Tochter, die beide zu Montelino gekommen sind. Tabea erzählt: »Wir sind glücklich, dass wir zusammen trainieren können.« Das merkt man sofort. Die Mädchen lachen zusammen, nehmen sich in den Arm. Dass es Spaß machen darf, sei für die ukrainischen Zirkuskinder neu, erläutert Bileam Tröger. In der Heimat sei das nicht gern gesehen. Da werde mit großem Ernst geübt. Der Ehrgeiz beflügelt aber auch die Deutschen. Die möchten schließlich genauso gern Zirkusartisten werden. 2000 Kilometer entfernt tobt der Krieg.

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