Digitale Selbstermächtigung

Der Thriller »Missing« erzählt vom Kampf einer jungen Frau um die Wahrheit

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit Hilfe des World Wide Webs will June Allen (Storm Reid, links) ihre vermisste Mutter wiederfinden.
Mit Hilfe des World Wide Webs will June Allen (Storm Reid, links) ihre vermisste Mutter wiederfinden.

»Missing« ist ein rasanter Film. In knapp zwei Stunden erzählt der Screenlife-Thriller mit der atemberaubenden Geschwindigkeit ungemein schnell geschnittener Bilder, die allesamt von einem Computerbildschirm stammen, die Geschichte der 18-jährigen June Allen (Storm Reid) aus Los Angeles, die ihre vermisste Mutter Grace (Nia Long) sucht. Die verbringt mit ihrem neuen Freund Kevin (Ken Leung) ein paar romantische Tage im kolumbianischen Cartagena, kommt aber nicht wie verabredet zurück. June macht sich per Internet auf die Suche, nimmt Kontakt zur Polizei auf, und bald wird klar, dass ihre Mutter entführt wurde. Oder ist ihre Mutter womöglich nie nach Kolumbien gefahren? Was steckt hinter dieser undurchschaubaren Geschichte? Und welche Rolle spielt Grace’ neuer Liebhaber Kevin? »Missing« erzählt das alles ausschließlich über den Bildschirm von Junes Computer. Die ist meistens per Cam in einem Ausschnitt des Bildes zu sehen, und der Zuschauer verfolgt über zahlreiche geöffnete Bildschirmfenster, wie sie ihrer vermissten Mutter hinterherrecherchiert.

June ruft die Polizei an, hackt die Mail- und Dating-Accounts ihrer Mutter und deren Freundes, wühlt sich durch Online-Datenbanken, checkt Kreditkartenabrechnungen, sieht sich die Bewegungsprofile der Handys an und durchforstet Webcams in Cartagena, bis sie sogar eine Spur ihrer Mutter findet. Per App bucht sie einen Reinigungsdienst, den sie schließlich überredet, ihr vor Ort in Kolumbien zu helfen und zu recherchieren. Der schon etwas ältere Javi ist bereit, ihr zu helfen. Solidarität kann eben auch übers Netz funktionieren. So reist June per Apps und Videochats von ihrem Schreibtisch durch die südamerikanische Metropole, findet unzählige digitale Spuren ihrer Mutter und deren Freundes, kommuniziert mit verschiedenen Behörden, scheint einer Lösung immer näher zu kommen und begibt sich dabei aber bald in Lebensgefahr.

»Missing« ist ein geradezu aufklärerischer Film für Vertreter der älteren Generation, die immer noch glauben, die Kids würden erst, wenn Computer und Handy ausgeschaltet sind, am wirklichen Leben teilnehmen. June schafft es, mit smarter Hartnäckigkeit und einem inspirierten Umgang mit alltäglichen digitalen Tools, mehr über den tatsächlichen Verbleib ihrer vermissten Mutter herauszufinden als die biederen polizeilichen Ermittler, die ihr ein amtliches Formular zumailen, das ihr dann einen Tag später als nicht korrekt ausgefüllt und nicht bearbeitbar zurückgeschickt wird.

Die moderne Überwachungstechnologie wird von der jungen June subversiv unterlaufen und zur eigenen Selbstermächtigung genutzt. Das ist in der schnellen Bildfolge der zahlreichen Screener-Ausschnitte mitunter auch mal anstrengend, aber bildästhetisch recht gut durchkomponiert mit pixeligen Kamerafahrten, Fernsehbildern, irrwitzig schnell getippten Nachrichten und durchforsteten Timelines, die Geheimnisvolles aus der Vergangenheit von Junes Mutter und deren Freunds zutage fördern.

Dabei überschlagen sich die verblüffenden Wendungen des Kriminalfalls im Lauf des Films fast ein wenig zu oft und zu rasant. Als würde sich der Inhalt den digitalen Möglichkeiten von Junes genialer Netz-Recherche unterordnen. Wobei die junge Frau irgendwann auch ganz analog das Haus verlässt und per Webcams gefilmt real Todesängste ausstehen muss.

Nachdem sich dann am Ende so ziemlich sämtliche Horrorszenarien ereignet haben, die überhaupt vorstellbar sind, wird diese Geschichte sehr schön und auch die Computerbildschirm-fixierte Erzählweise selbstironisch aufgelöst. Nicht wenige werden mit diesem Screenlife-Format ihre Probleme haben und das zu Unrecht als nicht ernst zu nehmenden »Computerfilm« abtun. 

Aber je mehr Computerbildschirme und die damit verbundene Ästhetik und die Alltagspraxis sozialer Mediennutzung zur alles umspannenden und verbindenden Realität werden, kann und muss es auch diese Art des Erzählens geben, die sich definitiv weiterentwickeln wird. »Missing« lotet schon mal gekonnt aus, was das Format erzählerisch zu bieten hat.

»Missing«: USA 2023. Regie: Nicholas D. Johnson/Will Merrick. Mit: Storm Reid, Nia Long, Ken Leung. 111 Minuten. Läuft im Kino.

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