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  • Staatstheater Cottbus: »Anna Karenina«

Befreit die weibliche Lust!

Aufrührerische Energie: Am Staatstheater Cottbus feierte »Anna Karenina« Premiere

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein intimer Zusammenklang von Körpern und Sprache: »Anna Karenina« am Staatstheater Cottbus
Ein intimer Zusammenklang von Körpern und Sprache: »Anna Karenina« am Staatstheater Cottbus

Der Eröffnungssatz von Lew Tolstois Roman »Anna Karenina« ist geradezu sprichwörtlich geworden: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.« Der herrschende Zeitgeist würde dieses tragische Bewusstsein Tolstois gewiss gern durchstreichen. Unglück ist ihm so etwas wie ein Verkehrsunfall, ungerecht und willkürlich, eine empörende Ungerechtigkeit – und keineswegs der Normalzustand menschlicher Existenz. Für Tolstoi dagegen scheint die Sache klar: Glück heißt jener paradiesische Zustand vor aller Erkenntnis und ist danach nur unter vorsätzlicher Ausschaltung des Verstandes erreichbar. Nur wenige Momente, in denen ein denkendes Wesen dazu fähig bleibt – in der Hingabe an Augenblicke der Liebe, Musik, völligen Harmonie mit der Umwelt –, darf man glücklich nennen. Sie sind so selten wie kostbar. Wer ihnen aber Dauer geben will, wählt die Dummheit.

Gegen dieses Diktum rebelliert Milena Michaleks Inszenierung mit allem Furor des Sturm und Drang, ebenso mit jenem szenischen Instinkt, der von ihr vor allem eins fordert: Distanz zum Geschehen. Denn Theater ist ein Kunstprodukt, verwandelt die nicht endende menschliche Komödie in einen oftmals absurden Ausdruck.

Wer also im Glück ein Lebensziel sucht wie Tolstois Heldin Anna muss enttäuscht werden. Überhaupt, wer nicht zur Enthaltsamkeit fähig ist, seiner Sinnlichkeit nachgibt, der ist für Tolstoi ein Verlorener. So hatte er es in seiner »Kreutzersonate« grausam durchexerziert. Existieren wir, um glücklich zu werden oder um unsere kurze Lebensspanne sinnvoll zu nutzen? Thomas Mann, der mit den »Buddenbrocks« selbst den unaufhaltsamen Untergang einer Familie beschrieb, nannte »Anna Karenina«, diesen »größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur«, auch einen »Roman gegen die Gesellschaft«. Denn die Gesellschaft frisst den ambitionierten Einzelnen.

Tolstoi hat viel von seinem Lebensideal plus der unlösbaren Problematik seiner aristokratischen Existenz in »Anna Karenina« hineingeschrieben. Die degenerierte Oberschicht, die sich zu Tode langweilt, stößt Tolstoi ab. Er will Graf bleiben, doch auch als Gleicher unter Gleichen mit den Bauern auf dem Feld arbeiten. Aber das macht ihn nicht zufrieden, denn die Bauern finden so einen Grafen wie ihn, der am Rande des physischen Zusammenbruchs ungeschickt mit der Sense hantiert, bloß lächerlich.

Währenddessen hat er die großen Themen vor Augen, vor allem die Vollendung der Befreiung der Bauern. Denn die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war nur der Beginn einer großen Umwälzung, die auch eine der Seele werden soll. Das Tolstojanertum, auf seinen Lehren der Bedürfnislosigkeit gründend, war dann zur einen Hälfte Religion, zur anderen Ideologie. Im Ganzen unlebbar. Als Rilke und Lou Andreas-Salomé ihn 1899 auf seinem Gut besuchten, wurden sie von der Familie Tolstois feindselig empfangen. Der alte Mann war in deren Augen ein Narr, wenn auch ein berühmter.

Milena Michalek (Jahrgang 1993) legt mit diesem Abend ihre erste Regiearbeit am Staatstheater Cottbus vor und hat auch die Stückfassung selbst besorgt, strotzt alles von jugendlicher, besonders von weiblich aufrührerischer Energie. Von Lust auch. Brustfrei wie auf Eugène Delacroixs revolutionärem Barrikadengemälde »Die Freiheit führt das Volk« stürmen hier die weiblichen Figuren (neben Charlotte Müller als Anna vor allem Sarah Gailer als Kitty) über die Bühne. Befreit die weibliche Lust! Das hat man hier so noch nicht gehabt. Da greift eine junge Regisseurin von unverkennbar großem Talent mitsamt einem hoch motivierten Ensemble energisch nach einem vielschichtigen Stoff. Natürlich weicht dieser vor dem direkten Zugriff zurück – aber auch das wird Teil des Spiels. Einen Schritt zurückgehend lässt sich dann aus der Beobachterperspektive sagen: »Die Frauen sind die Schrauben, durch die sich alles dreht.«

Glücklicherweise vermeidet die Regisseurin den naheliegenden Fehler, äußerliche Erzählbögen des umfänglichen Romans auf die Bühne zu bringen. Bei einer Romanadaption wäre Langeweile programmiert. Diese Inszenierung aber sucht nach dem, was Anna vorantreibt, weg von ihrem Ehemann Karenin (Gunnar Golkowski), bei dem Würde mit Rachsucht konkurriert, hin zu Wronski (Johannes Scheidweiler), der nicht viel mehr als ein hohlsprecherischer Verführer ist.

Die Geschichte der ihrer Liebe (auch der Begierde!) folgenden Anna als von der Gesellschaft ausgegrenzten Ehebrecherin wird nicht im Detail nacherzählt. Michalek wählt einen anderen Zugang: »Ich will einen Monolog von Annas Geist schreiben. Sie muss wieder auferstehen. Sie muss sprechen über ihre Lust, ihr Wollen, ihr Sterben.« Das bestimmt den Gestus, der etwas von einem Tim-Burton-Gespensterstück bekommt. Lauter überzeichnete Figuren, die doch mehr als Karikaturen sind! Furios das Zusammenspiel der Regie mit den wechselnden skelettartig-knappen Bühnenhintergründen von Charlotte Pistorius. »Kosmos« steht über dem Eingang eines Gebäudefragments, eine Anspielung auf das »Sternchen« in Cottbus, dem 60er-Jahre-Bau einer Mokka-Milch-Eisbar, der längst abgerissen wurde. Am Ende rückt der sternförmige Bau ganz nah an den Zuschauerraum, denn die Erinnerung altert nicht. Die Kostüme von Tutia Schaad bewegen sich im Niemandsland der Genres, sparen nicht mit Hüten und Schleiern in allen Farbtönen und geben so dem Abend etwas zusätzlich Entrückt-Fantastisches.

Überhaupt ist dies eine der seltenen Inszenierungen, bei denen ein intimer Zusammenklang von Körpern und Sprache gelingt. Präzise choreografierte Bewegungen der Einzelnen in Bezug auf sich bildende und wieder zerfallende Gruppen gehen über die Grenze jedes Realismus hin zum Grotesken des Symbolismus, wo die Leere vergehender Zeit zum Ereignis wird. So hören wir hier dann Dialoge wie diesen: »Tanzen Sie? – Ich reise lieber. – Was ist Ihr Lieblingszug? – Der um 7 Uhr und 8 Sekunden. – Das ist auch meiner.« Liegt die Lakonie, die schneidende Sachlichkeit im Abseitigen in Tolstois Roman verborgen? Gewiss, man muss sie nur erwecken.

Charlotte Müller als Anna ist der Motor des Abends. Sie treibt die Handlung so voran, wie sie die Nicht-Handlung havarieren lässt, teils auch mit deplatziert wirkenden Abschweifungen, etwa zu den Westlinken, dem Ukraine-Krieg und der Geschlechteridentität. Weniger wäre hier mehr gewesen. Fania Soel übernahm kurzfristig die Rolle der Dascha für die erkrankte Susann Thiede und spielte punktgenau vom Blatt. Dass dieses Handicap dem Abend keinerlei Abbruch tat, spricht nicht nur für die Schauspielerin, sondern auch für die Tragfähigkeit der Regiearbeit.

Die Struktur der Spielfassung scheint simpel: Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Dennoch bekommt sie etwas schicksalhaft Bezwingendes. Manola Bertling als Lewin – jene Tolstoi wohl am meisten ähnelnde Figur – wird zum zweiten Energiezentrum des Abends, ein Gegengewicht zu Charlotte Müller. Dieser Schauspieler kann das Heimliche ins Unheimliche, den Witz in den Aberwitz treiben, wenn er etwa den Frühling ankündigt, wo »der Trieb noch nicht weiß, was er treiben wird – ich auch nicht.« So taufrisch durfte man solcherart Tolstoi-Vivisektion nicht erwarten!

Nächste Vorstellungen: 1.3., 6. und 15.4.
www.staatstheater-cottbus.de

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