Zeugen Jehovas Attentat: Täter war ein extrem Rechter

Die Ideologie des Mörders von Hamburg weckt Zweifel, ob der Täter eine Waffe besitzen durfte

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Morgen vor seiner blutigen Tat gab Philipp F. in den sozialen Netzwerken ein letztes öffentliches Lebenszeichen: Bei Linkedin, einer Plattform für Geschäftskontakte, preist der 35-Jährige die angeblich guten Verkaufszahlen seines Buches, schreibt von einer »hundertprozentigen Zufriedenheitsrate«. Wenige Stunden später erschießt er sieben Menschen in einem Gotteshaus der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf, verletzt acht weitere Personen teils schwer und begeht schließlich Suizid, als die Polizei mit einer Spezialeinheit das Gebäude betritt.

Bisher halten sich die Ermittlungsbehörden mit Aussagen über das Tatmotiv zurück. Als gesichert gilt, dass Philipp F. früher der Hamburger Gemeinde angehörte, die Zeugen Jehovas jedoch vor eineinhalb Jahren verließ. Offensichtlich nicht im Guten, wie es in einer Pressekonferenz am Freitag hieß. Grund zu dieser Annahme ist auch ein anonymes Schreiben, das die Hamburger Waffenbehörde im Januar erhielt. Darin heißt es, Philipp F. sei seit Jahren psychisch krank, begebe sich jedoch nicht in Behandlung. Ebenfalls erwähnt werden sein Hass auf religiöse Gruppen und einen früheren Arbeitgeber.

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Im Februar findet ein Kontrollbesuch bei dem 35-Jährigen statt, ob dieser seine Pistole, eine halb automatische Heckler & Koch P30, zu Hause ordnungsgemäß lagert – den Waffenschein besitzt der Sportschütze erst seit Dezember 2022.

Ungefähr zur gleichen Zeit erscheint sein Buch, das Philipp F. am Tattag erwähnte. Rückblickend liest es sich wie ein Manifest, das Hinweise darauf gibt, was auch der anonyme Hinweisgeber mit seinen Warnungen vor F. gemeint haben könnte. 306 Seiten umfasst das Pamphlet, erschienen im Selbstverlag. Während Amazon das Werk einen Tag nach den Morden aus seinem Shop entfernt, ist das Buch bei anderen Anbietern im englischsprachigen Raum noch am Montag erhältlich. Schon der Titel ist vielsagend: »The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions« – »Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan: Ein neuer, reflektierter Ausblick von epochalen Dimensionen«. 

Auf den ersten Blick klingt das nach einer theologischen Auseinandersetzung, F. will sein Buch auch genau so verstanden wissen, bewirbt es vollmundig als »Standardwerk, wenn es um Theologie und Recht geht«, es sei »eine Pflichtlektüre für alle Personen, die eine Funktion oder Führungsposition in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Unterhaltung innehaben.«

Tatsächlich aber zeigt sich bereits beim Querlesen eine wirre, gefährliche Mischung aus religiösem Eifer, Antisemitismus, Hass auf Frauen und LGBTQ sowie NS-Verherrlichung. Adolf Hitler etwa wird zu einem Werkzeug Gottes erklärt, der Holocaust sei eine Rache von Jesus an den Juden gewesen. Ähnliches schreibt F. über Wladimir Putin und den Ukraine-Krieg. Auch Russlands Präsident handele im Auftrag Gottes. Über Frauen beklagt sich F. in seinem Buch, ihr Verhalten habe sich »drastisch zum Schlechten verändert«; Männer seien die »Krone der menschlichen Schöpfung«, während Frauen ihre »dekorative Rolle« einnehmen müssten. Sich selbst hält Philipp F. für eine Art Prophet, dem »Gott sich persönlich gezeigt hat, um die Wahrheit ans Licht zu bringen«. Glaubensgemeinschaften wiederum seien für den Umgang der Menschen mit Gott nicht angemessen.

Das sich in dem Buch von Philipp F. aufzeigende Weltbild weist zahlreiche Parallelen zur Ideologie vieler rechtsterroristischer Attentäter der letzten Jahre auf. Anders Behring Breivik, der 2011 insgesamt 77 Menschen bei einem Zeltlager der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Norwegen ermordete, hielt sich etwa für einen Nachfolger der christlichen Tempelritter, der Europa beschützen müsse. Festgehalten hatte Breivik das alles in einem mehr als 1500 Seiten umfassenden Manifest. Auch die Attentäter von Halle und Hanau verfassten Schriften, in denen sie sich erklärten, nahmen teils aufeinander Bezug. Stephan B., der in Halle eine Synagoge stürmen wollte und am Ende zwei Menschen tötete, bezog sich in seiner Erklärung auf Brenton T., der 2019 im neuseeländischen Christchurch zwei Moscheen überfiel und 51 Menschen tötete. T. wiederum schrieb damals in seiner Erklärung, Breivik sei für ihn eine »wahre Inspiration« gewesen.

Persönlich gekannt haben sich die Täter alle nicht, wenngleich sie ähnliche völkisch-rassistische Theorien und Verschwörungserzählungen teilten. Ein zentrales Element dabei ist immer der Hass auf alles, was sie als liberal in der Gesellschaft wahrnahmen, insbesondere Feminismus. Für Philipp F. handelten selbstständige Frauen gegen Gottes Willen; für Breivik sei durch den Feminismus die angebliche »Machtbalance« zwischen Männern und Frauen zerstört worden.

»Der theologische Text des Täters von Hamburg gibt erschreckende Einblicke in seine Gedankenwelt: Homophobie gepaart mit einer Fixierung auf ein düsteres, von Gewalt und Brutalität bestimmtes Gottesbild, Geschichtsrevisionismus und massivem Antisemitismus«, schrieb die Islamwissenschaftlerin und Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor (Die Grünen) bei Twitter.

Für Deniz Çelik, innenpolitischer Sprecher der Hamburger Linksfraktion, zeichnen »die auf der Homepage und im Buch vertretenen kruden Thesen das Bild eines wirren, religiösen Extremisten«. Weil all diese Informationen zum Zeitpunkt des anonymen Hinweises öffentlich zugänglich waren, fragt sich Çelik, ob »eine gründliche Prüfung durch die Waffenbehörde« nicht hätte zu dem Ergebnis kommen müssen, dass erhebliche Bedenken gegen die Eignung Philipp F.s zum Besitz einer Waffe vorliegen, weshalb ein psychologisches Gutachten hätte eingefordert werden müssen, wie es in solchen Fällen möglich sei. Die Behörden ihrerseits erklären, sie hätten im Fall Philipp F. alles im Rahmen der Möglichkeiten getan. Ob das stimmt, zeigen vielleicht die weiteren Ermittlungen und eine Aufarbeitung der Hamburger Tat. 

Dieser Text ist Teil der Ausgabe nd.DerTag vom 14. März 2023.

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