»Auf einmal waren wir frei«

Eine virtuelle Ausstellung schildert die Befreiung aus Sicht von Zwangsarbeitern in Leipzig

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.
Der damals 77-jährige Jan Lauda aus Tschechien zeigt aus Anlass der Eröffnung der Gedenkstätte in Leipzig 2001 seine ehemalige Arbeitskarte, die er als Zwangsarbeiter bei sich führen musste.
Der damals 77-jährige Jan Lauda aus Tschechien zeigt aus Anlass der Eröffnung der Gedenkstätte in Leipzig 2001 seine ehemalige Arbeitskarte, die er als Zwangsarbeiter bei sich führen musste.

Eine Woche vor dem Ende verschwanden die Deutschen aus dem Betrieb. Nur einige Vorgesetzte saßen an ihren Schreibtischen. »Wäre es möglich, dass wir der Befreiung so nahe sind?«, notierte Emile Denis am 12. April 1945. Der junge Belgier war zur Zwangsarbeit in eine Werkzeugfabrik in Leipzig verschleppt worden. Er führte Tagebuch und schilderte darin auch die dramatischen Ereignisse rund um das Ende des Kriegs und des NS-Regimes. Für Samstag, den 14. April, verzeichnet er andauerndes Artilleriefeuer. Am Dienstag, dem 17. April, gibt es Panzeralarm, tags darauf ein »Bombengewitter«. Denis und seine Gefährten bangen um ihr Leben: »Wir sind mitten in der Kampfzone«, schreibt er und spricht von »einer einzigen Angst«. Die hat indes am 18. April ein Ende. Die US-Armee marschiert in Leipzig ein. »Dieses Mal«, heißt es erleichtert, »ist es die Erlösung.«

So wie Denis ging es in den letzten Stunden des Krieges vielen Zwangsarbeitern in der Stadt, sagt Isabel Panek. »Sie waren vorfreudig, weil sie wussten: Die Amerikaner kommen, und gleichzeitig durchlitten sie größte Ängste, weil sie den Kämpfen und Grausamkeiten schutzlos ausgeliefert waren«, sagt die Historikerin, die als Projektleiterin in der Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig an einer Ausstellung unter dem Titel »Befreit in Leipzig 1945« mitgearbeitet hat. Sie schildert das Kriegsende aus Sicht von Zwangsarbeitern. Es ist, wie Panek sagt, eine bisher kaum dargestellte Perspektive.

In Leipzig waren im Frühjahr 1945 rund 75 000 Zwangsarbeiter im Einsatz: zivile Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern in Ost- und Westeuropa, dazu Kriegsgefangene und zahlreiche KZ-Häftlinge. In Summe entsprach ihre Zahl etwa einem Achtel der Stadtbevölkerung. Ein Stadtplan in der Gedenkstätte zeigt ihre Unterkünfte; er ist voller roter Punkte: »Sie waren überall in der Stadt präsent. Jeder konnte es sehen«, sagt Panek. Eingesetzt wurden sie in Leipziger Großunternehmen, aber auch bei Handwerkern oder als Schaffner bei den städtischen Verkehrsbetrieben. Zu den Firmen, die Zwangsarbeiter besonders rigoros ausbeuteten, gehörte das Rüstungsunternehmen Hasag, in dessen ehemaligem Pförtnerhäuschen die 2001 gegründete Gedenkstätte ihren Sitz hat.

Eng mit diesem Unternehmen verbunden ist das Schicksal von Estare Weiser, die kürzlich 80 Jahre alt geworden ist und damit als jüngste bekannte Überlebende der Zwangsarbeit bei der Hasag gilt. Sie wurde geboren am 13. April 1945, dem Tag, an dem die SS das zum Betrieb gehörende KZ-Außenlager in der Kamenzer Straße räumte und dessen Insassinnen auf einen Todesmarsch schickte. Die Gedenkstätte sei seit 2020 mit Weiser in Verbindung, sagt Panek.

In einem Video für die Ausstellung schildert diese die erschütternde Vorgeschichte ihrer Geburt. Ihre Eltern, die polnisch-jüdischen Familien entstammte, waren zunächst in von der Hasag betriebenen Lagern in Polen brutal ausgebeutet und misshandelt worden. Als diese wegen der anrückenden Roten Armee geräumt wurden, fürchteten sie Trennung und Tod, hätten aber einen »Moment gefunden, um ihre Liebe auszudrücken«, wie Weiser formuliert. Die Schwangerschaft brachte ihre Mutter in Todesgefahr; sie verdankte ihr Überleben den Wirren in den letzten Stunden des Krieges. Dieser endete in Leipzig fünf Tage nach Weisers Geburt. Ihre Eltern, die sich durch glückliche Fügung wiederfanden, emigrierten später nach New York.

Das Leben von Estare Weiser hing in jenen Apriltagen 1945 am seidenen Faden. Gleiches gilt für Piotr Korschunkow, der als sowjetischer Soldat in deutsche Gefangenschaft geraten war und Zwangsarbeit zunächst im KZ Groß Rosen hatte leisten müssen, später im Leipziger Ortsteil Abtnaundorf. Dort gehörte er zu den Insassen einer Krankenbaracke, die am 18. April 1945 von der SS in Brand gesteckt wurde. 84 Menschen starben, nur wenige konnten fliehen. Zu ihnen gehörte Korschunkow, der das grausame Geschehen später in eindrücklichen Zeichnungen festhielt, die in der Ausstellung zu sehen sind.

»Die Idee, dass man im Alltag auf das Thema stoßen soll, ist aufgegangen.«

Isabel Panek 
Gedenkstätte für Zwangsarbeit

Diese lässt anhand vielfältiger Zeitzeugenberichte nachvollziehen, wie nahe in jenen letzten Kriegsstunden Freude und Leid beieinander lagen. Während Deutsche in Abtnaundorf das Massaker verübten, sah der Belgier Emile Denis die amerikanischen Panzer vorbeirollen und wusste: Es ist geschafft. Die Ausstellung verdeutlicht auch, wie stark sich die Sichtweise von Zwangsarbeitern und Deutschen auf die Ereignisse unterschied. Letztere hätten das Ereignis überwiegend als Niederlage erlebt, sagt Panek.

Dagegen erzählt die ukrainische Jüdin Blanka Pudler, wie für sie als damals 16-Jährige mit der Ankunft der US-Truppen KZ-Zeit, Zwangsarbeit und Todesmarsch zu Ende gingen. »Auf einmal waren wir frei«, sagte sie und fügt einschränkend hinzu: »Man kannte gar nicht den Begriff, was das bedeutet.« Andere genossen die Freiheit sofort in vollen Zügen. Der Franzose Charles Lecomte fotografierte Landsleute, die im vormaligen Zwangsarbeiterlager Haus Auensee ein ausgelassenes Tanzvergnügen veranstalteten.

Die Aufnahmen voller Lebensfreude gehören zu den berührendsten Dokumenten der Ausstellung, die sich auch auf Tagebücher und Briefe stützt, auf Akten und künstlerische Zeugnisse. Zu sehen ist sie in einer deutschen und einer englischen Version ausschließlich online, was auch den beengten Platzverhältnissen im Domizil der Gedenkstätte geschuldet ist. Diese bemüht sich seit Jahren sehr erfolgreich, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, wozu etwa Stadtteilrundgänge beitragen. Im Fall der Ausstellung gelingt das mit Plakatmotiven, die Porträts und prägnante Zitate einzelner Protagonisten zeigen und in Leipziger Straßenbahnen zu sehen sind. Möglich wurde das durch eine Kooperation mit den Leipziger Verkehrsbetrieben. Die von der Künstlerin Mimi Hoang gestalteten farbenfrohen Motive hätten der Ausstellung zu viel Resonanz verholfen, sagt Panek: »Die Idee, dass man im Alltag auf das Thema stoßen soll, ist aufgegangen.«

Aufmerksam werden die Leipziger dadurch womöglich auch auf die prekäre Situation der Gedenkstätte. Diese hatte im Januar mitgeteilt, man sehe sich zu »drastischen Einschränkungen« gezwungen. So wurden pädagogische Angebote und Öffnungszeiten stark gekürzt. Auslöser für den »schmerzhaften« Schritt war der Umstand, dass sowohl die Stadt als auch der Freistaat keinen beschlossenen Etat für 2025 hatten und kaum Fördergelder ausreichten.

Inzwischen gibt es im Freistaat einen Haushaltsentwurf, der indes für die gesamte Gedenkstättenlandschaft Schlimmes befürchten lässt. Die Mittel seien auf dem Niveau von 2024 eingefroren, was bei steigenden Personal- und Betriebskosten einer Kürzung gleichkomme, sagte Markus Pieper, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Er betonte, die in Gedenkstätten praktizierte Auseinandersetzung mit Diktaturen der Vergangenheit sei wichtig, um die Gesellschaft für die Gefährdungen der Demokratie zu sensibilisieren: »Das kostet nun einmal Geld, auch wenn die Haushaltslage schwierig ist.«

Wie es für die Leipziger Gedenkstätte weitergeht, ist offen. »Wir schauen von Monat zu Monat«, sagt Panek. Die Arbeit wird dennoch weitergeführt. Dazu gehört auch die Kontaktpflege zu Überlebenden und Angehörigen. Mitte Juni wird Estare Weiser zu einer Veranstaltung erwartet. Sie sei, sagt Panek, zum ersten Mal nach 80 Jahren wieder in Leipzig – in einer Stadt, in der Schicksalen wie dem ihren eine beeindruckende Ausstellung gewidmet wird, in der aber auch das Gebäude in der Kamenzer Straße, wo sie geboren wurde, noch immer einem Neonazi gehört und als Treffpunkt für die Szene dient.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -