»Das war wunderbar!«

Wie deutsche Antifaschisten in den Reihen der Alliierten die Befreiung erlebten

Stefan Heym, geboren als Helmut Flieg, wurde zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der DDR
Stefan Heym, geboren als Helmut Flieg, wurde zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der DDR

Eine Ahnung von endlich nahender Befreiung Europas aus dem Würgegriff der deutsch-faschistischen Bestie erfasst Ernst Melis in Lyon in den frühen Morgenstunden des 6. Juni 1944. Über den Äther dringt zu den deutschen und französischen Genossen die Nachricht: »Der Himmel über Frankreich ist wolkenlos.« Code für die lang erwartete Eröffnung der Zweiten Front. Der 1933 über Holland nach Frankreich emigrierte deutsche Kommunist hat jahrelang Flugblätter verfasst, um Wehrmachtsangehörige zur Desertion zu bewegen, eine illegale Zeitung herausgegeben, »Der Soldat am Mittelmeer«, und Pässe gefälscht, um Verfolgten zu helfen. Er verabredet sich mit seinen Freunden bei Alfons. Der Wirt spendiert an diesem Freudentag Pinot noir und Calvados sowie eine Spezialität aus der just heiß umkämpften Stadt in der Normandie: »Tripe à la mode de Caen«, Eingeweide mit Zwiebeln und Karotten.

Es währt noch Wochen, bis Frankreich befreit ist. Am 19. August 1944 bricht der Aufstand in Paris aus. Mit dabei Hans Heisel, der sich einem Trupp von jugoslawischen Kämpfern angeschlossen hat, »tollkühne Männer«. Am 25. August ist der Sieg errungen. »Das war wunderbar! Die Menschen tanzten auf den Straßen, lachten und weinten.« Hans hat im Stab der deutschen Kriegsmarine in Paris Gleichgesinnte gewonnen, mit denen er dem französischen Widerstand frisch über die Fernschreiber einlaufende Informationen zukommen lässt. Mehr noch: »Die Résistance hatte stets großen Bedarf an Waffen.« Hans und Gefährten bedienen sich in den Umkleidekabinen der von der Wehrmacht frequentierten Schwimmbäder und in Theatergarderoben. »Einmal haben wir zwanzig Waffen erbeutet.« Mit einer Pistole, die Hans in einem Café unbemerkt entwendet, wird SS-Standartenführer Julius Ritter erschossen, Satrap von Fritz Sauckel, Hitlers Generalbevollmächtigten für Zwangsarbeiterrekrutierung.

Zu Heisels Truppe im Marinestab gehörte Kurt Hälker, der auch bei der Befreiung von Paris dabei ist. Für ihn ist wie für Heisel, der mit dem Regiment des legendären Colonel Fabien nach Deutschland weiterzieht, der Krieg da noch nicht zu Ende. Der Duisburger versucht im Auftrag des Comité Allemagne libre pour l’Ouest, bei Mühlhausen im Elsass Wehrmachtssoldaten zum Überlaufen zu bewegen. »Achtung! Achtung! Deutsche rufen Deutschen zu: Macht Schluss mit dem sinnlosen Blutvergießen! Rettet euer Leben!« Blindwütiges MG-Feuer ist die Antwort. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1944 – nur ein schmaler Kanal trennt Kurt von seinen verblendeten Landsleuten – denkt er, von Angesicht zu Angesicht könne man sich besser unterhalten. Er wirft eine an einem Stein befestigte Schachtel Zigaretten hinüber. Das Geschenk überzeugt.

Erhard Stenzel aus dem sächsischen Freiberg feiert ebenfalls die Befreiung von Paris auf dem Champs Élysées. Anfang Januar 1944 ist er in Rouen desertiert, hat sich dem Maquis, den aus den Wäldern Frankreichs operierenden Partisanen, angeschlossen, Gleise und Brücken in die Luft gesprengt und einmal auf einen Streich sieben KPF-Funktionäre vor deren Transport zur Hinrichtungsstätte gerettet. Inzwischen in eine reguläre französische Einheit eingegliedert, gelangt er am 12. Juni 1944 nach Oradour-sur-Glane. Überall Leichen, von der SS erschossene, erschlagene, verbrannte Frauen, Männer und Kinder. »Wir kamen zwei Tage zu spät.« Erhard schämt sich, Deutscher zu sein.

Horst Behrendt feiert Djen Pobjedi, den Tag des Sieges, am 9. Mai 1945 in Krasnogorsk. Der Sohn aus sozialdemokratischem Elternhaus hatte die Gelegenheit zur Desertion Anfang März 1944 in einem Dorf nahe Winniza in der Ukraine genutzt. Ein gutmütiger Bauer bietet ihm Zuflucht. Nach Stunden der Ungewissheit wird der Deutsche von einem jungen Mädchen mit strahlendem Lächeln befreit: »Die Unseren sind da.« Am nächsten Tag weiht Horst einen Nachrichtenoffizier der Sowjetarmee in die Verschlüsselungscodes seines Regiments ein. Der 23-Jährige wird Mitarbeiter des Nationalkomitees Freies Deutschland, agitiert Kriegsgefangene. Für ihn unbefriedigend. »Gebt mir eine Uniform und ich marschiere mit euch nach Berlin«, bettelt er. Die Antwort: »Njet. Du musst deine Deutschen umerziehen, damit sie wieder Menschen werden.« 

Stefan Heym als Sergeant der US-Armee
Stefan Heym als Sergeant der US-Armee

Ein ähnliches Los fällt Hans Herzberg zu, der mit einem Kindertransport nach England gelangt war. Als der Krieg ausbricht, meldet er sich zur britischen Armee, wird genommen und in Glasgow rasch militärisch gedrillt. Er soll mit einer Pioniereinheit nach Indien verschifft werden. Hans protestiert. »Ich will nicht irgendwo gegen die Japaner zu kämpfen.« Er will an die zweite Front, Aug in Aug den Judenmördern gegenüberstehen. Er wird kein Schlachtfeld betreten. Hans muss in Kriegsgefangenenlagern bei Verhören dolmetschen. Victory Day feiert er in Abergavenny in Südwales mit der Labor Party.

Im Rock der Roten Armee erlebt Hanna Bernstein die Befreiung von Wien am 13. April 1945. Sie ist mit der 3. Ukrainischen Front vom Schwarzen Meer über Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien nach Österreich gelangt. Die Tochter aus kommunistisch-jüdischer Familie hatte am Fremdsprachlichen Institut in Moskau studieren wollen. Der Krieg kam dazwischen. »Ich wurde eine Zersetzerin.« Das heißt, den Feind mürbe machen, zur Aufgabe zu überreden, beispielsweise die in Stalingrad eingekesselten Wehrmachtseinheiten. Hanna durchquert mit ihrem Lautsprecherwagen Minenfelder. »Wir hatten keine Ahnung.« Wer ahnungslos ist, hat keine Angst. Kühn fliegt sie auch in einem Doppeldecker über deutsche Stellungen, um Flugblätter abzuwerfen. Nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst arbeitet sie für Sergej Tulpanow bei der SMAD, der Sowjetischen Militäradministration. Die alsbald verheiratete Hanna Podymachina kann sich nicht gleich anfreunden mit den Deutschen. Als sie in der Berliner U-Bahn einem Mann an Krücken ihren Platz anbietet, schnauzt einer die junge Frau im Rotarmistenuniform an: »Erst hast du ihn kaputt geschossen, jetzt glaubst du, das so wieder gutzumachen?!«

Ebenfalls für die SMAD, allerdings in Halle-Merseburg, wird Moritz Mebel tätig. Von der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 erfährt er in einem Ort, 50 Kilometer östlich von Brno. Er ist Oberleutnant der Roten Armee, mit der 2. Ukrainischen Front in die Slowakei gelangt. Hier leistet die 6. deutsche Heeresgruppe noch drei Tage nach dem in Karlshorst besiegelten Kriegsende erbitterten Widerstand. Moritz hatte am 22. Juni 1941 in der Bibliothek des Medizinischen Instituts in Moskau gepaukt, als durch die offenen Fenster die Stimme des Außenministers Wjatscheslaw Molotow via Lautsprecher drang und den heimtückischen Einfall der Hitlerhorden mitteilt. Für Moritz gibt es gleich seinen Kommilitonen kein Halten. »Es ging um Sein oder Nichtsein.« Mit einem Arbeiterbataillon marschiert er schnurstracks von der Parade auf dem Roten Platz über die Wolokolamsker Chaussee den Eindringlingen vor den Toren der sowjetischen Hauptstadt entgegen.

Auch Werner Knapp kann am 8. Mai 1945 noch nicht feiern. Mit seiner Mutter und seiner Zwillingsschwester war er über Prag nach Paris gelangt, hat mit der Tschechoslowakischen Auslandsarmee die schmähliche Niederlage der Grande Nation im Juni 1940 an der Marne mit erlitten, wurde mit seiner Einheit nach England verschifft und will eigentlich zur Royal Air Force. Er hätte gern eine Spitfire geflogen, wird aber in ein Panzerbataillon gesteckt. Mit der zweiten Welle der »Operation Overlord« landet er im Juni 1944 in der Normandie, steuert einen Cromwell. »Der ist schnell gewesen. Der optimale Panzer war aber der sowjetische T 34.« Nach opferreichen Kämpfen in der »Knochenmühle« von Falaise gelangt sein Regiment nach Dunkerque. Dünkirchen ist zur Festung erklärt worden. »Da haben wir erlebt, was Fanatismus bedeutet.« Die Besatzung ergibt sich erst am 9. Mai.

Mit 17 hat sich Stefan Doernberg in Moskau zur Roten Armee gemeldet. Er kehrt im Rang eines Leutnants mit dem Stab von Wassili Tschuikow in seine Heimatstadt zurück, fährt durch die Trümmerwüste von Berlin und prophezeit den in den Ruinen verschanzten Verteidigern der Reichshauptstadt: »Jeder, der jetzt noch fällt, bringt sein Opfer umsonst.« Oberbefehlshaber Helmuth Weidling verweigert am 1. Mai noch die weiße Fahne, am folgenden Tag lenkt er ein. Stefan dolmetscht. Sechs Tage später auch bei der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst. Für ihn bleibt der 2. Mai die Zäsur: »Der Friede ist an diesem Tag angebrochen.«

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