In den Tod getrieben

Als die Niederlage der Wehrmacht schon greifbar war, mussten noch Zehntausende KZ-Häftlinge auf Todesmärschen sterben.

  • Peter Bierl
  • Lesedauer: 7 Min.
Denkmal für Todesmärsche im April 1945 aus dem KZ Dachau, Plastik von Hubertus von Pilgrim
Denkmal für Todesmärsche im April 1945 aus dem KZ Dachau, Plastik von Hubertus von Pilgrim

In den letzten Monaten des Krieges ermorden die Deutschen auf sogenannten Todesmärschen noch etwa eine Viertelmillion Menschen. Es sind Überlebende aus den Konzentrationslagern, die vor den anrückenden alliierten Befreiern weggeschafft werden. Die Nationalsozialisten setzen damit den Genozid bis zur allerletzten Minute fort, und zwar mit den Mitteln, die ihnen angesichts der bevorstehenden Niederlage noch zur Verfügung stehen – und mit Beteiligung von Zivilisten.

Vernichtung durch Arbeit

Deutlich wird der Zusammenhang zwischen Tötungsabsicht und fehlenden Mitteln bei den elf Außenlagern des KZ Dachau bei Kaufering im südwestlichen Oberbayern. Dort lässt die Organisation Todt (OT), zuständig für die Rüstungsproduktion, mithilfe von KZ-Sklaven riesige Bunker anlegen, um im Untergrund Jagdflugzeuge zu fertigen. Der erste Transport aus Auschwitz trifft am 18. Juni 1944 ein. Insgesamt werden bis zu 30 000 Menschen dorthin verschleppt, darunter Frauen und Kinder.

Das Programm ist Vernichtung durch Arbeit. Sie hausen in Erdlöchern, kalt, schmutzig und voller Ungeziefer, ihre Kleidung ist dünn und löchrig, das Essen knapp und schlecht. Fleckfieber, Tuberkulose und Typhus grassieren. Die Arbeitssklaven fällen Bäume, bauen Dämme für Schienen und schleppen schwere Zementsäcke. Insgesamt kommt in knapp zehn Monaten mindestens ein Drittel bis die Hälfte von ihnen ums Leben. Im Oktober werden mehr als 1300 Gefangene als arbeitsunfähig selektiert, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Dennoch gibt es Widerstand. In den Lagern bilden sich zionistische Gruppen, eine Zeitung in jiddischer Sprache wird handschriftlich vervielfältigt.

Als amerikanische Truppen von Westen näherrücken, will der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, die Lager bombardieren lassen, um die Häftlinge zu töten. Aber dafür fehlen die Bombenflugzeuge. Also schickt die Lagerleitung die noch knapp 10 000 Insassen zu Fuß und in Zügen ins Stammlager Dachau oder das Nebenlager Allach. Dort werden sie mit anderen, die aus den Konzentrationslagern Buchenwald oder Flossenbürg dorthin gebracht worden waren, weiter nach Süden in Richtung Alpen getrieben. Wer unterwegs erschöpft niedersinkt, wird von den Wachen erschossen oder von Bluthunden zerfetzt. Das Krankenlager IV in Kaufering zündet die SS noch an, die US-Soldaten finden Hunderte verbrannter Leichen.

Getrieben von Antisemitismus

Bereits zu Kriegsbeginn organisieren die Nationalsozialisten solche Vernichtungsmärsche. Einige Tausend Juden werden im Dezember 1939 von Chełm zur deutsch-sowjetischen Demarkationslinie am Bug getrieben, dabei werden Hunderte getötet. Etwa 800 Juden aus Lublin sollen Mitte April 1940 nach Biała Podlaska laufen, nur wenige Dutzend überleben. Im Juli und August 1941 erleiden Zehntausende Juden aus der Bukowina und Bessarabien ein ähnliches Schicksal. Diese Gebiete hatte die Sowjetunion 1940 Rumänien abgepresst, ein Jahr später marschieren die Deutschen ein.

Die meisten Todesmärsche finden gegen Ende des Krieges statt. Ab Sommer 1944 werden die Lager im Baltikum, in Ostpolen und Südosteuropa vor der herannahenden Roten Armee geräumt, von Januar bis März 1945 werden Gefangene weiter nach Westen verschleppt und zwischen März und Mai finden eher ziellose Bewegungen innerhalb des schrumpfenden deutschen Machtbereichs statt. Der Begriff Todesmärsche bezieht sich darauf, dass die Gefangenen bereits ausgemergelt und halbverhungert waren und unterwegs von ihren Wächtern misshandelt und massakriert wurden. Der Anblick solcher Kolonnen sei alltäglich gewesen, schreibt Shmuel Krakowski, ein polnisch-israelischer Historiker und Direktor des Archivs von Yad Vashem, der selbst die Konzentrationslager überlebt hatte.

Der US-amerikanische Historiker Daniel Jonah Goldhagen führt die Todesmärsche als Beleg dafür an, dass die Deutschen bis zuletzt von einem mörderischen Antisemitismus getrieben waren. Als Paradebeispiel für seine These führt er die etwa 1000 Frauen an, die vom Lager Grünberg in Niederschlesien am 29. Januar zur Stadt Helmbrechts südlich von Hof laufen mussten, dabei wurden 200 Frauen ermordet. Von Helmbrechts mussten sie am 13. April zusammen mit anderen weitergehen, insgesamt etwa 1200 Gefangene, die Hälfte sind Jüdinnen. Sie liefen über die Grenze in die deutsch besetzte Tschechoslowakei, wo die Nicht-Jüdinnen zurückgelassen wurden, während die Jüdinnen unter entsetzlichen Bedingungen bis Volary weitergetrieben wurden. Ein US-Offizier beschreibt die überlebenden Frauen am 7. Mai als Greise, dabei handelt es sich um Teenager. Kurz vor Abmarsch in Helmbrechts trifft ein Kurier Heinrich Himmlers ein und übermittelt den Befehl des Reichsführers SS, niemanden mehr zu töten. Der Bote habe die weiblichen SS-Wachen aufgefordert, ihre Prügel abzulegen, was diese nicht taten, schreibt Goldhagen.

Beim Massaker von Gardelegen verbrennen die Wachen mithilfe örtlicher Funktionäre und Zivilisten am 13. April mehrere Tausend Gefangene eines Todesmarsches vom Lager Dora-Mittelbau in einer Scheune bei lebendigem Leib. Manche Märsche verlaufen kreuz und quer, vom KZ Flossenbürg nach Regensburg mit einem gewaltigen Umweg über Sachsen oder vom KZ Neuengamme nach Sandbostel über Bergen-Belsen im Süden und Lübeck im Norden. Die Unterschiede zwischen Häftlingsgruppen seien verschwommen, betroffen waren jüdische, polnische und russische Gefangene gleichermaßen, schreibt der israelische Historiker Daniel D. Blatman.

Gräuel bis zuletzt

Dass es speziell darum ging, Juden zu quälen und zu morden, könnte für die ersten beiden Phasen der Todesmärsche zutreffen, für die letzte im Chaos eher nicht. Aus dem Lager Bor in Jugoslawien sollen 6000 Juden nach Ungarn verschleppt werden, nur einige Hundert überleben, die übrigen werden massakriert. Etwa 76 000 Juden werden Anfang November von Budapest zur österreichischen Grenze getrieben, Tausende werden erschossen, verhungern, erfrieren oder sterben an Krankheiten. Am 20. Januar führt die SS etwa 7000 Juden, davon 6000 Frauen, aus dem Lager Stutthof. Als sie am 31. Januar Palmücken an der Ostsee erreichen, sind 700 bereits getötet worden, die anderen erschießt die SS am Strand.

Zu Beginn des Jahres 1945 wird der Rückzug immer chaotischer, Kommandostrukturen zerfallen, dennoch verüben die Deutschen unfassbare Gräuel, aber wahllos, etwa in Buchberg bei Bad Tölz, wo die SS etwa 120 sowjetische Zwangsarbeiter*innen aussortiert und erschießt, die Juden und Jüdinnen aber leben lässt. Anfang Februar löst die SS das Lager Groß-Rosen mit allen Nebenlagern auf, von etwa 40 000 Gefangenen werden mehr als die Hälfte ermordet. Bei den Todesmärschen aus dem KZ Stutthof ab dem 25. April kommen etwa 26 000 Menschen ums Leben. Im Außenlager Mühldorf-Mettenheim, einem halb unterirdischen Rüstungsbetrieb der Firma Messerschmitt, werden 4000 Menschen am 25. April in einen Güterzug gepfercht, der fünf Tage durch Oberbayern fährt. Es gibt kein Essen und keine Toiletten.

In Poing östlich von München bleibt der Zug wegen eines Defekts liegen. Die Wachen schießen auf Gefangene, die fliehen, mehr als 50 Tote und 200 Verletzte bleiben liegen, als der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Als US-Soldaten den Zug am 30. April in Seeshaupt am Starnberger See entdecken, liegen Tote und Verwundete in den Waggons übereinander gestapelt in Blut und Exkrementen. Überlebende leiden unter Flecktyphus und Tuberkulose, 63 von ihnen sterben nach der Befreiung an Unterernährung und Krankheiten. Der Lagerkommandant von Mühldorf will noch am 2. Mai etwa 600 Gefangene ermorden lassen, die man im Lager gelassen hatte. Sein Befehl wird nicht mehr befolgt. Die US-Einheiten sind etwa 15 Kilometer entfernt.

»Endphaseverbrechen«

Die Todesmärsche bewegen sich durch Städte und Dörfer. Bei manchen Anwohnern lösen die lebenden Leichen, die an ihren Haustüren vorbeiwanken, Entsetzen und bei einigen Hilfsbereitschaft aus. Manche Überlebende berichten, dass Einheimische ihnen Brot, Wasser oder Kartoffeln geben wollten. »Der Name dieser Stadt ist mir im Gedächtnis geblieben, nicht nur, weil er mir sonderlich vorkam, auch nicht nur, weil ich nach zehn Monaten Lager und Wald das erste Mal wieder eine Stadt erblickte. Es gab noch einen weiteren Grund«, notiert Zwi Katz in seinen Erinnerungen über Fürstenfeldbruck. Aus den Fenstern sei ihnen Brot zugeworfen worden. »Es war aufmunternd und stimmte mich optimistisch, der Krieg ging sichtlich zu Ende.«

Weil nur die Überlebenden berichten können, entsteht ein falscher Eindruck. Die meisten Deutschen verbergen sich in ihren Häusern, aus Angst vor den gefährlichen »Untermenschen« der NS-Propaganda, die um Hilfe betteln oder stehlen; manche auch, weil die Wachen hilfsbereite Zeitgenossen bedrohen. Die Bevölkerung handelt extrem feindselig, wie Shmuel Krakowski schreibt. »Diese Situation löste eine schreckliche Welle der Gewalt von Zivilisten aus, die bis dahin nicht aktiv am Genozid beteiligt waren«, bilanziert Daniel D. Blatman. Er spricht von einer »genozidalen Mentalität«.

Kinder bewerfen die Elendszüge mit Steinen. Lokale NS-Funktionäre, Bürgermeister, Polizisten, Volksturmmänner und Hitlerjungen machen Jagd auf geflohene »Zebras«, wie die Gefangenen aufgrund ihrer blauweiß gestreiften KZ-Kleidung genannt wurden. Die sogenannten Endphaseverbrechen zeigen, dass Rassenwahn und Massenmord bis zum letzten Augenblick die Charakteristika dessen waren, was von einer AfD-Größe als »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte abgetan wurde.

Wer unterwegs erschöpft niedersinkt, wird von den Wachen erschossen oder von Bluthunden zerfetzt.

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