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  • Kultur
  • Von Menschen und Tieren

Sprechende Tiere

Begegnungen mit nach Bier gierenden Papageien, dem Frosch im Hals und Bernd, dem Brot

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Wer hat denn heute wieder schlechte Laune?
Wer hat denn heute wieder schlechte Laune?

Die Großtante einer Grundschulfreundin hatte einen grauen Papagei, dem sie sprechen beigebracht hatte. Sie wohnte in einem Reihenhaus mit einer klitzekleinen Terrasse, auf der ein Käfig stand, der etwa so groß war wie der Papagei selbst. Er konnte genau einen Satz sagen, den er immer wiederholte: »Ein Bier bitte.« Ich war von Anfang an gerührt von dem sprechenden Tier, das mit ziemlich menschlicher Stimme vergeblich eine kulturelle Handlung vollzog, die dennoch der Spezies der Menschen vorbehalten bleibt. Der graue Papagei mit den roten Schwanzfedern und dem weisen Blick konnte noch so oft bitten: Es wurde ihm kein Bier serviert.

Noch rührender als die virtuose Getränkebestellung des Vogels allerdings fand ich die Vorstellung davon, wie das Tier den Satz erlernt haben musste: Die betagte Frau hatte erst einige Recherche betrieben, um einen geeigneten Satz zu finden, der angemessen war, um ihn ihrem (ebenfalls mittlerweile betagten) Schützling beizubringen, und hatte dann wochen-, wenn nicht monatelang vor dem Käfig gesessen und den aus dem Kontext gerissenen Satz wiederholt, bis der Papagei ihr nicht mehr bloß die Zunge herausgestreckt hatte, sondern den Satz tatsächlich wiederholte. Auch die Großtante selbst wurde in der Hingabe zur vergeblichen Wiederholungshandlung zu einer Art sprechendem Tier, besessen von diesem einen Satz: »Ein Bier bitte.«

Dass auch Menschen sprechende Tiere sind oder sie zumindest mit sich herumtragen, manchmal sogar als Teil ihres Körpers, weiß ich allerdings nicht erst, seit ich jene alte Dame und ihren alten Graupapagei kenne, ich lernte es schon früher: Als Schlüsselkind verbrachte ich nämlich ganze Nachmittage allein vor dem Fernseher und schaute »Einsatz in vier Wänden« oder Gerichtssendungen mit Laiendarsteller*innen. Die Hausaufgaben machte ich ausschließlich vor dem Fernseher – eher sporadisch.

Ab ungefähr sieben Uhr wartete ich ungeduldig darauf, Schritte auf der Treppe zu hören, die von einem tiefen, schleimigen Räuspern begleitet waren, das dem Quaken eines laichenden Frosches ähnelte. Wenn ich dieses tiefe, schleimige Räuspern hörte, hüpfte mein Herz kurz vor Freude auf, denn es hieß, dass mein Vater, der immer einen Frosch im Hals hatte, endlich nach Hause kam, uns ein Schlemmerfilet in den Ofen schob und sich neben mich vor den Fernseher setzte. Noch immer wird es ganz warm in mir, wenn ich höre, wie jemand sich schleimig räuspert, der Frosch quakt tief und beruhigend.

Ein Frosch im Hals, das nennt man medizinisch auch Globusgefühl oder Globus hystericus. Ein hysterisches Globusgefühl. Mein Vater hat mir sein Globusgefühl vererbt, das übrigens beim Schreiben dieses Textes immer unaushaltbarer wird, ebenso wie die (hysterische, das darf man nicht sagen) Frage danach, für welche tödliche Krankheit der Globus im Hals ein Symptom sein könnte.

Der Weltball steckt in meinem Rachen fest, mein Kehlkopf ist Mutter Erde, Gaia – was für ein Größenwahn! Und mit ihm kommt die Angst, der Komplex: Fast so, als ob mir über dem Versuch, die Stimme (zum Erzählen) zu erheben, die Stimme wegbricht.

Jeden Abend schliefen mein Vater und ich nach dem Schlemmerfilet vor dem Fernseher ein. Und wenn dann, mitten in der Nacht, einer von uns, meistens ich, aufwachte und den anderen weckte, auf dem Teller noch die öligen Abdrücke der Schlemmerfilet-Kruste, lief auf dem Kinderkanal »Bernd, das Brot«: Die Durational-Performance eines in einem Brotkostüm mit unfreundlichem Gesicht steckenden »Schauspielers«, der die ganze Nacht vor einem weißen Hintergrund (wahrscheinlich ein Green Screen) verbrachte und seinen Frust ins Nichts schleuderte. Bernd, das Brot war eine Art lebendiger Bildschirmschoner und hoch suizidal.

Ein miserabler Alleinunterhalter, ein trauriger Clown. Kein sprechendes Tier, ein schimpfendes Lebensmittel. Manchmal schmiss sich Bernd auch mit voller Wucht gegen die Mattscheibe. Aber es half nichts: Nicht mal das Dahinscheiden war Bernd vergönnt – er war zu allem Übel auch noch ein Untoter.

Mein Vater schaute auch gerne an Weihnachten »Sissi, die junge Kaiserin« – ich erinnere mich lebhaft an die langhaarige Romy Schneider in der Hauptrolle, vor allem an ihre bezaubernde Kinderstimme. Als Kind versuchte ich immer, mir eine solche liebliche Prinzessinnenstimme zuzulegen, vor allem das Lachen sollte mindestens eine Oktave höher transponiert werden. Ich hielt mir, das tue ich noch heute, die Hand vor den beim Lachen weit geöffneten Mund, damit keiner mein gefletschtes schiefes Raubtiergebiss sehen kann, wie eine lachende Hyäne sehe ich aus. Meine Stimme blieb trotzdem bis heute tief, unelegant, irgendwie dreckig. Ihre Stimme nimmt Raum ein, anders als ein raumgreifender Körper, aber nicht weniger aufdringlich. Tiere sprechen also nicht nur wie Menschen, sondern auch wie (andere) Tiere, zum Beispiel wenn sie jagen. Und Menschen sprechen manchmal in Tierstimmen oder lachen wie junge Kaiserinnen.

In meinem Hals sitzt plötzlich nicht nur die ganze Welt, sondern eine Schildkröte, die zu groß geworden ist und wie ein Fremdkörper, der aus meinem Hals herausragt. Auf der Spur ihrer Erkrankung fahre ich erschöpft durch die Stadt. Das Gefühl, etwas Fremdes in sich zu haben, ist immer erschreckend. Eine Schildkröte gehört ins Wasser oder zumindest in ein Terrarium, nicht in meinen Hals. Sie hat einen schönen, farbigen Panzer, keine alberne Über- oder Unterfunktion und schon gar keine Autoimmunerkrankung. Im Gegenteil: Im Winter legt man sie ins Gefrierfach, im Frühling ersteht sie, wie Jesus, wieder auf.

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