»Hoffentlich werden die Mittel künftig gezielter eingesetzt«

Der Bildungsforscher Marcel Helbig hat die Förderprogramme nach der Corona-Pandemie untersucht. Sein Fazit fällt nüchtern aus

Man hört gerade nicht mehr so viel vom Förderbedarf wegen der Corona-Pandemie, obwohl es ihn ja noch gibt. Das zeigen Studien. Woran liegt das?

Man weiß nicht so recht, woran man gerade ist und was man tun sollte. Es wurde ja investiert. Alle Länder haben ihre Programme aufgelegt, teilweise wurde noch mal nachbesteuert, zusätzliche Mittel wurden nachgeschossen. Aber ausreichend war die Förderung nicht und effektiv wohl auch nicht. Viele Kinder, die dringend Unterstützung brauchen, können nicht erreicht werden.

Interview

Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig beschäftigt sich mit Fragen der sozialen Ungleichheit im Bildungssystem. Er leitet den Arbeitsbereich »Strukturen und Systeme« am Leibniz-Institut in Bamberg. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern hat er die Aufholprogramme nach der Corona-Pandemie untersucht.

Was ist das Problem bei den Förderprogrammen?

Der Lehrkräftemangel an den Einrichtungen wirkt sich natürlich auch auf die Programme aus. Und es konnten nicht von heute auf morgen neue Modelle und Unterstützungsnetzwerke aufgebaut werden, so wie das manchmal suggeriert worden ist. Es gibt Bundesländer wie Hamburg oder Berlin, wo die Aufholprogramme relativ einfach angewendet werden können. In Hamburg gibt es bereits überall Ganztagsschulen. Dort gibt es Strukturen, die für den Aufbau von Förderprogrammen hilfreich sind. In den Flächenländern dagegen gibt es die nicht, insbesondere im Süden nicht. Da war das Wort Ganztagsschule lange Zeit geradezu ein Kampfbegriff. Dort jetzt ein ganz neues Fördermodell aufzubauen, ist nicht leicht. Das ist kein Selbstläufer. Zudem kam das Geld oft nicht dort an, wo es einen großen Nachholbedarf gibt, wo der Anteil von Kindern, die zu Hause nur wenig Unterstützung bei der Schule bekommen, hoch ist. Das war nur in wenigen Programmen angedacht worden. In Sachsen etwa wurde das Geld pro Schülerzahl verteilt, da hat eine Privatschule so viel bekommen wie eine Grundschule in einem sozial schwachen Bezirk. Das hat die Bedürftigen oft nicht erreicht.

Die soziale Ungleichheit wurde also noch einmal manifestiert?

Sie ist zumindest nicht kleiner geworden.

Nachholbedarf ist also noch immer da.

Ja, definitiv. Wir hatten die IQB-Studie mit Viertklässlern, die gezeigt hat, dass viele Kinder Probleme beim Schreiben, Lesen und Rechnen haben. Weitere Studien mit anderen Jahrgangsstufen werden womöglich zu ähnlichen Befunden führen. Die Corona-Pandemie hat Lücken gerissen. Bei den älteren Schülern sind die vielleicht nicht so groß, weil das Homeschooling besser geklappt hat. Mit Grundschülern kann man nur schwer Videounterricht machen.

Was müsste jetzt passieren?

Ich hoffe, die Mittel werden künftig gezielter eingesetzt und nicht wieder nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Da hat nämlich Bremen anteilig so viel Geld bekommen wie Bayern, obwohl in Bremen die Armutsquote drei Mal so hoch ist. Derzeit wird viel über das Startchancen-Programm diskutiert, mit dem an 4000 Schulen mit großen Bedarfen mehr investiert werden soll. Das ist ein richtiger Schritt, weil nämlich so Benachteiligte eher die Hilfe bekommen, die sie brauchen.

Wie sollten die Mittel eingesetzt werden?
Viele Gelder fließen in den Schulbau. Aber es ist nicht klar, ob auch die Schulen, die am meisten pädagogische Unterstützung brauchen, davon profitieren. Denn die haben womöglich nicht den größten Sanierungsstau in ihren Einrichtungen. Zudem ist es nicht leicht, die kommunalen Bauverwaltungen mit den Bildungsbehörden zusammenzubringen, diese müssen dann mit den Bundesbehörden gekoppelt werden, um die Gelder abzurufen. Das ist ein ziemliches Bürokratiemonster.

Auch für die Sozialarbeit an den Schulen gibt es unterschiedliche Förderstrukturen aus verschiedenen Töpfen. Da weiß die eine Hand manchmal nicht, was die andere macht. Jetzt kommt der Bund an und will noch einmal die Sozialarbeit fördern, ohne zu wissen, wo es überhaupt Schulsozialarbeiter gibt.

Also müssen die Maßnahmen zielgenauer sein?

Man kann sich auf jeden Fall nicht hinstellen, wie die Politik es manchmal tut, und sagen, wir brauchen mehr Geld, wir brauchen mehr Lehrkräfte. Und so tun, als wäre das dann ein Selbstläufer. So einfach ist es nicht.

Wenn die Schulen große Probleme mit den Aufholprogrammen haben, konnten private Institute davon profitieren?

Es gab nur wenige Bundesländer, die auf private Nachhilfeinstitute gesetzt haben. In Mecklenburg-Vorpommern etwa gab es wohl Überlegungen, dass, wenn es die Schulen nicht hinkriegen, private Bildungseinrichtungen eingebunden werden könnten. Aber offenbar hat es nicht zu einem Aufschwung der Branche geführt, weil es auch im ländlichen Raum Probleme gibt, private Anbieter zu finden.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass die Corona-Pandemie dauerhaft für eine Delle in der Biografie der Schüler sorgt und zu Schwierigkeiten im Berufsleben führt, wie die OECD das vorhergesagt hat?

Da verkennt die OECD die Anpassungsmöglichkeiten eines Bildungssystems. Es ist ja auffallend, dass das Wissen der Schüler infolge der Pandemie zurückgegangen ist, trotzdem gehen noch immer ähnlich viele Kinder aufs Gymnasium. Ob es vermehrt zu Abschulungen kommt und Kinder und Jugendliche nach zwei, drei Jahren die Schule wieder wechseln, weil die Anforderungen zu hoch sind, wird sich zeigen. Auffallend ist auch, dass vielerorts die Abiturnoten trotz der Pandemie sogar noch besser geworden sind. Noch ist nicht absehbar, wie sich dieser Trend entwickeln wird.

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