• Kultur
  • Jüdische Großfamilie

Meschuggene Mischpoche

Einer jüdischen Großfamilie kann man nicht entfliehen

  • Alexander Estis
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich frage Euch: Was wären wir ohne unsere Mischpoche? Ohne unsere Mischpoche, was wären wir da? Ohne Mischpoche wären wir reich, jung, frei und sowieso längst ganz woanders. Zum Beispiel in Amerika. Und vielleicht hätten wir dort sogar eine ganz andere Mischpoche. Und wären zum Beispiel Schachweltmeister oder Primaballerinen. Ohne unsere Mischpoche, was wären wir da nicht alles!

»Mamele, Tatele, was haltet ihr davon: Ich will werden ein berühmter Musikant!« – »Oj wej, Mojsche, du bringst uns noch ins Grab! Wie oft hast du schon ein Instrument gespielt?« – »Nu, dann will ich werden ein großer Schriftsteller!« – »Ein großer Schriftsteller! Du bringst uns noch ins Grab! Wie oft hast du überhaupt schon Bücher gelesen?« – »Beseder, ich werde ein mächtiger Staatsmann!« – »Meschuggener, du bringst uns noch ins Grab! Wie oft hast schon jüdische Staatsmänner gesehen? – «Scha, seid still! Werde ich halt Bestatter, da ich euch schon so oft ins Grab gebracht habe.»

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Ein mafioser sizilianischer Familienclan ist nichts gegen die jüdische Mischpoche. Deine sizilianische Mafiafamilie liebt dich, aber du musst trotzdem für sie sterben. Das kommt auch in den besten jüdischen Familien vor. Bei Isaak ging es gerade noch glimpflich aus und auch bei Joseph, aber bei Jesus ist es dann eskaliert. Also: Deine sizilianische Mafiafamilie liebt dich, aber du musst trotzdem für sie sterben. Deine jüdische Mischpoche liebt dich, aber du musst trotzdem mit ihr leben. «Oj wej, Chaim, du warst so lang nicht mehr bei deinen Eltern! Ich kann dir gar nicht mehr sagen, wie lang! So lang warst du nicht mehr da, Chaim, seit du vor zweieinhalb Stunden gegangen bist!»

Du kannst die Mischpoche nicht verlassen. Aber selbst wenn du könntest – sie verlässt dich nie. Moses führte seine ganze Mischpoche vierzig Jahre lang durch die Wüste, doch sie ließ ihn trotzdem nicht in Ruhe.

«Chaim, warum kommst du nicht zu uns? Sind wir etwa nicht deine Familie – und ist heute nicht Chanukka?» – «Chaim, warum kommst du nicht zu uns? Sind wir etwa nicht deine Familie – und ist heute nicht Schabbat?» – «Chaim, warum kommst du nicht zu uns? Sind wir etwa nicht deine Familie – und ist heute nicht der Tag nach gestern?»

Die Mischpoche ist immer da, wenn du sie brauchst. Zum Beispiel wenn du jemanden brauchst, dem du die Windeln wechseln kannst, oder jemanden, dem du viel zu viel Geld leihen willst, oder jemanden, von dem du Ezzes kriegen kannst, obwohl du damit bestens überversorgt bist. Die Mischpoche ist also immer da, wenn du sie brauchst, immer da, wenn du sie nicht brauchst, und sogar immer da, wenn du brauchst, dass sie ganz woanders ist. «Mojsche, gehst du gar nicht zur Familienfeier?» – «Nu, ich dachte die Feier besteht darin, dass die Familie dort ist!»

Du bist mit dir zufrieden und hältst dich für weise, weil du nicht zum Familienfest und überhaupt nirgendwohin gehst, sondern zufrieden und weise zu Hause sitzt? Aber wie weise kann ein Mensch schon sein, der zufrieden ist, und wie zufrieden einer, der weise ist? Du bist also nicht zum Familienfest gegangen, aber die Strafe folgt auf dem Fuße, und zwar auf mehr als nur einem: Der Familienbesuch. Dann wünschst du dir, du wärst doch irgendwohin gegangen, sei es sogar das Familienfest.

«Wir haben gehört, du wolltest gar nicht zur Familienfeier! Da mussten wir nach dir sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.» – «Geht lieber zu Jascha und schaut, ob bei ihm alles in Ordnung ist, denn ich habe gehört, er wollte zur Familienfeier!»

Du wünschst dir, du wärst irgendwohin gegangen, irgendwohin gefahren, irgendwohin geschwommen. Und nun endlich, endlich fährst du einmal weg, ganz allein, ganz für dich, zufrieden und weise. «Mamele, Tatele, ich fahre nach Winniza!» – «Oj, dann grüß mir Tante Riwa!»
«Wisst ihr, ich fahre gar nicht richtig nach Winniza, sondern mehr nach Schmerinka!» – «Take gut, aber dann nimm ein Geschenk mit für Onkel Eiseks Tochter!» – «Wisst ihr, was soll ich in einem Kaff wie Schmerinka, ich fahre lieber gleich nach Odessa!» – «In dem Fall geh bitte zur Schwippschwägerin der Urgroßnichte meiner Muhme dritten Grades, denn sie hat noch immer unseren Teller mit dem goldenen Saum!»

Die Mischpoche beginnt dort, wo die Logik aufhört. Denn die Mischpoche ist meistens meschugge, weil Mischpoche dich meschugge macht. Aber nicht jeder, der meschugge ist, ist zwangsläufig Mischpoche. Nehmen wir zum Beispiel Vetter Schmuel. Vetter Schmuel ist so meschugge, dass wir nicht wissen, ob er überhaupt noch zur Mischpoche gehört – und wenn doch, zu welcher genau. Vetter Schmuel ist so meschugge, dass er glaubt, er sei ein sizilianischer Mafiaclan. Vetter Schmuel ist so meschugge, dass wir oft nicht einmal wissen, ob es überhaupt Vetter Schmuel ist oder vielleicht jemand ganz anders. Wo bleibt da die Logik? Ihr denkt, ich weiß es nicht, doch ich weiß es: auf der Strecke.

Du selbst bleibst auf der Strecke mit der ganzen Mischpoche. Oder die Mischpoche bleibt auf der Strecke, wenn du es nicht tust. Das ist das Gesetz der Mischpoche. Ohne Mischpoche wären wir deshalb nicht so meschugge. Wir wären zufrieden und weise. Wir wären reich, jung, frei und fromm. Was wir nicht alles wären ohne unsere Mischpoche! Aber ohne unsere Mischpoche wären wir gar nicht wir, sondern ich, du, sie und er.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal