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Orbánisierung Griechenlands?

Notizen von einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Eisenbahnunglück vom 28. Februar hat die griechische Bevölkerung aufgebracht. 58 Menschen starben damals, das heruntergewirtschaftete Bahnsystem wurde auf tragische Weise offensichtlich. Seitdem gehen die Massen auf die Straße und protestieren, seit 2015 hat es solchen Unmut nicht gegeben. Die Polizei schlägt brutal zurück. Die Umfragewerte der konservativen Regierung sinken, ein Wechsel bei den kommenden Wahlen scheint nicht mehr unmöglich zu sein.

»Es war kein Unfall«, betonte Iason Apostolopoulos auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) dieser Tage in Berlin, »es war staatlicher Mord!« Apostolopoulos ist einer der bekanntesten Flüchtlingshelfer Griechenlands. Seit 2019 ist das Streckennetz privatisiert –eine Forderung der Europäischen Union. Die Anlagen verrotten, die maroden Strukturen sind seit langem bekannt.

»Die staatliche Eisenbahn wurde für 43 Millionen verkauft«, sagte der Journalist Stavros Malichudis, »und wir mieten sie für 50 Millionen zurück. Das Geschäft könnte ich auch machen«, fügte er sarkastisch hinzu.

Griechenland ist seit den Sparmaßnahmen aus der Finanzkrise zum Bittsteller Europas geworden. Auch die Wasserversorgung ist mittlerweile privatisiert. Und der konservative Regierungschef Mitsotakis ist williger Vollstrecker geforderter Maßnahmen. Die Parteifreundin Ursula von der Leyen, seit Dezember 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission, gab im März 2020 das Motto vor: Griechenland sei der Schutzschild Europas. Das bedeutet: Sorgt ihr dafür, dass keine Flüchtlinge nach Europa kommen, dann bekommt ihr Geld. Menschenrechte spielen in diesem perfiden Abkommen offenbar keine Rolle mehr. Mitsotakis setzt die Vorgaben mit aller Härte durch: »Pushbacks« sind zur Regel geworden, das heißt, Flüchtlinge werden ins Meer getrieben.

»Es gibt kein Völkerrecht«, klagte Apostolopoulos, »sondern einen Basar, einen Handel mit Menschen.« Und »Pushback« sei eigentlich nicht das richtige Wort, ergänzte er. Vielmehr sorgten staatliche Maßnahmen dafür, dass geflüchtete Menschen einfach verschwänden.

Aus »abgrundtief schrecklichen« Lagern fliehen Flüchtlinge in umliegende Wälder. Dort sterben sie an Erschöpfung. Zustände auf Lesbos beispielsweise seien »eine Schande für Europa«, kritisierte Apostolopoulos. Den Flüchtlingen werden als erstes die Telefone abgenommen, damit keine Fotos von den Zuständen gemacht werden können. Danach werden sie weiter ausgeplündert.

Die Flüchtlingsrouten verliefen heute nicht mehr von der Türkei nach Griechenland, sondern an Griechenland vorbei, 600 Meilen bis nach Italien. Deshalb gebe es mittlerweile zwanzig Mal mehr Tote im Mittelmeer.

Im Land werden Wut und Zorn gegen die »Horden« und »Eindringlinge« geschürt, die Ausländerfeindlichkeit nimmt zu. Im griechischen Parlament erhebe niemand seine Stimme gegen die »Pushbacks«, ergänzte Erik Marquardt, seit 2019 grünes Mitglied des Europäischen Parlaments. (Vor zwei Jahren veröffentlichte der Politiker bereits ein Buch unter dem Titel: »Europa schafft sich ab. Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können«.)

Es werde eine Freund-Feind-Politik verfolgt. Wer Kritik an Missständen in Griechenland übe, sei ein Feind Griechenlands, ein Verräter, ein Freund der Türkei. »Bist du gegen ›Pushbacks‹, bist du gegen Griechenland, also gegen dein Heimatland«, verdeutlichte Apostolopoulos. Solch ein Freund-Feind-Denken werde eigentlich nur in Kriegszeiten trainiert.

In diesem Klima seien auch eher milde Töne der Opposition, beispielsweise von Syriza, zu begreifen. Vaterlandsverrat steht im Raum, das höchste Vergehen in einem patriotischen Land. Und weite Teile der griechischen Bevölkerung geben sich einverstanden mit den staatlichen Vorgaben: Auch sie befürworten ‚Pushbacks‘.

Regierungschef Mitsotakis setze eine Politik um, die Griechenland auf den Weg Polens und Ungarns führen kann: Abschaffung demokratischer Rechte, Ausbau des repressiven Staates, Abbau des Wohlfahrtsstaats. Es sind die Wahlversprechen von Mitsotakis – und den Geheimdienst ordnete er sich dafür umgehend unter.

»Reporter ohne Grenzen« setzte die Pressefreiheit in Griechenland im vergangenen Jahr auf den letzten Platz in Europa, hinter Ungarn und Albanien. Nationale Nachrichtendienste überwachen Telefonleitungen und Nachrichtenkanäle, selbst der Parteichef der Sozialdemokraten wurde ausspioniert, auch höchste Militärs und sogar Minister der konservativen Regierung. Ein Klima der Verdächtigung macht sich breit.

In europäischen Medien werde darüber berichtet, aus griechischen Medien ist dazu kaum etwas zu erfahren. Die Opposition kommt nicht zu Wort. Alle Fernsehkanäle werden von der Regierung kontrolliert, die Zeitungen sind hoch verschuldet und abhängig von Werbeeinnahmen, gesteuert von der Regierung. Und die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung verbreite Fake News.

Die Justiz verfolge nicht die Verletzung von Menschenrechten, nicht die Täter, sondern die Kritiker. NGOs würden kriminalisiert, Korruption im Land werde nicht verfolgt. »Das Recht auf Asyl wird kriminalisiert«, sagte Apostolopoulos, »Menschenrechte werden kriminalisiert«, ergänzte Clara Bünger, Bundestagsabgeordnete der Linken. Vor einem Jahr musste der Chef der EU-Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, zurücktreten, weil der Verdacht illegaler ›Pushbacks‹ hochgekocht war. Doch die »Verbrechen mit Stempel der EU« fänden weiterhin statt, betonte der Grünen-Politiker Erik Marquardt.

Allein der Polizeiapparat Griechenlands werde stetig ausgebaut und modernisiert. Es gebe eine eigene Grenzpolizei, es gebe eine eigene Universitätspolizei. Die griechischen Gefängnisse seien überfüllt, voll mit Migranten. Drakonische Strafen würden verhängt.

Selbst Gaby Bischoff, SPD-Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2019, sprach von einer »Gefahr für die Demokratie in Europa«, wenn auch Griechenland zunehmend autoritär regiert werde.

Klar wurde in der Debatte bei der RLS aber auch: Das Europäische Parlament ist konservativ geprägt, die Flüchtlingspolitik wird von dort vorgegeben. Insofern hat Mitsotakis freie Fahrt. Und die deutsche Außenministerin, die das Völkerrecht wie eine Monstranz vor sich herträgt? Nicht viel zu hören von Annalena Baerbock, die Zustände an Europas Grenzen werden von ihr kaum kommentiert. »Schande für Europa!«, sagte der Flüchtlingshelfer Apostolopoulos. Wo bleibt die wertegeleitete deutsche Außenpolitik?

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