Optimismus als Flaschenpost

Vladimir Jurowski dirigierte mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Haydns »Sieben letzte Worte«

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.
Vladimir Jurowski bei den Proben
Vladimir Jurowski bei den Proben

Joseph Haydn war sich wohl bewusst, welch Monster von einem Werk er 1785 mit »Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze« geschaffen hatte: Sieben Sonaten mit einer Einleitung und am Schluss einem Erdbeben für Orchester, eine Passionsmusik, in der die extremen Nöte eines Menschen gespiegelt werden, der zu Tode gemartert wird. Eine geradezu existenzielle und gleichzeitig extrem wagemutige Musik ohne Worte, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung ohne Vorbild, also avantgardistisch war. »Es war gewiß eine der schwersten Aufgaben, ohne untergelegten Text, aus freyer Phantasie, sieben Adagios auf einander folgen zu lassen, die den Zuhörer nicht ermüden, und in ihm alle Empfindungen wecken sollten, welche im Sinne eines jeden von dem sterbenden Erlöser ausgesprochenen Wortes lagen«, erklärte Haydn seinem Biografen Georg August von Griesinger.

Den Auftrag zu dieser Komposition hatte Haydn von einem Priester aus der andalusischen Hafenstadt Cádiz erhalten, der Musik zur Karfreitagszeremonie suchte: Dort, in der Kapelle Santa Cueva, einer unterirdischen Grotte, die für Karfreitagsexerzitien erbaut worden war, wurde das Werk am Karfreitag 1787 uraufgeführt. Wände, Fenster und Pfeiler der Kirche wurden mit schwarzem Tuch überzogen, nur eine in der Mitte hängende Lampe »erleuchtete das heilige Dunkel«. Alle Türen wurden verschlossen, und die Musik begann mit dem Vorspiel, der Einleitung: Im punktierten Rhythmus einer Ouvertüre reiht Haydn mit zum Teil gewagten Intervallen etliche Fragen aneinander, die mit grellen dynamischen Kontrasten versetzt sind, die sich mit geradezu zärtlichen Melodien abwechseln.

In Cádiz erklomm dann der Bischof die Kanzel, sprach eines der sieben Worte (die entsprechenden Sätze aus der Leidensgeschichte Jesu), predigte über diese Textstelle, stieg von der Kanzel herab und fiel vor dem Altar auf die Knie – und Haydns Musik füllte dann jeweils diese Pause aus, auf ihre eigene Art das Gesagte kommentierend.

Der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB), Vladimir Jurowski, hat sich bei der Aufführung von Haydns Passionsmusik im Kammermusiksaal der Philharmonie am 3. April etwas Besonderes einfallen lassen: Er hat sechs zeitgenössische Komponist*innen aus Krisen- und Kriegsgebieten gebeten, zu den sieben Worten und den Haydn-Kompositionen aktuelle Kommentare zu verfassen. Und so wurden an diesem denkwürdigen Abend sechs Werke uraufgeführt. Zunächst ein »Agnus Dei« des ukrainischen Komponisten Oleksandr Shchetynsky, ein eindringliches Werk mit flirrend suchenden Streicherklängen, bei denen die aus postseriellen, cluster-artigen Dissonanzen und chromatischen Instrumentallinien gebildeten Klänge immer wieder tonale Harmonien suchen und für kurze Zeit auch finden, ehe sie von Blechbläsern und Pauken unterbrochen werden. Am Schluss ein zartes D-Dur-Flageolett, das in die erste Haydn-Sonate überführt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Dieser B-Dur-Satz, der wie alle Sonaten, in denen der Mensch seinen Gott anspricht, im Dreivierteltakt steht, besticht durch seine zärtlichen Kontraste. Eine lichte Wärme durchströmt die Musik, die Bitte um Vergebung entspringt ja der Herzenswärme des Bittenden – aber immer wieder sind auch die chromatischen Seufzer angesichts des Erlittenen zu hören, durchzieht eine gewisse Düsternis den Satz. Jurowski gestaltet dies mit ausgeklügelter Phrasierung und mit einer gelassenen Betonung der unterschwelligen Kontraste – viel schöner kann man das nicht musizieren.

Wenn man sechs aktuelle Werke bestellt, weiß der Auftraggeber natürlich nie, was er bekommen wird. Und so sind die uraufgeführten Stücke von unterschiedlicher Qualität. »Tropus« für »Belarussisches Cymbalom« (was immer das sein mag, weder in der Sekundärliteratur noch im Internet ist ein Cymbalom mit diesem nationalen Attribut zu finden) und Orchester des belarussischen Komponisten Victor Copytsko erinnert an Filmmusik. Da sind blecherne Morricone-Trompeten zu hören, wir erleben große Gesten, allesamt der Tonalität verpflichtet, mitunter sind auch Folklorismen des Cymbalom (Nadzeya Karakulka) zu hören oder gegen Ende Glockenklänge, wie sie auch Mussorgsky oder Rachmaninow gerne verwendet haben. Konnte man bei Copytsko noch Filmmusik assoziieren, ist bei »Music is coming« der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Poleva schlicht musikalischer Kitsch zu erleben, wie sie im Fernsehen bei »Bergdoktor«, »Schwarzwaldklinik« oder biederen Degeto-Heimatfilmen zur Untermalung dient.

Wie anders dann die musikalischen Kommentare, die nach der Pause zu hören sind. Die fünfte Sonate, »Sitio« (»Mich dürstet«), ist sowieso ein ganz besonderes Kleinod in Haydns Werk, gewissermaßen sein Herzstück. Über einer innigen Pizzicatomelodie von zweiten Violinen und Bratschen wandern mit fallenden Terzen überirdische Ruhepole durch Oboen, Fagotte und Flöten, ehe die erste Violine mit einem A-Dur-Gesang solistisch einsetzt. Moll-Einbrüche, Kontraste mit hämmernder Rhythmik, ehe die süßliche Melodie des Anfangs zurückkehrt. Der in Moskau geborene und in Berlin lebende Komponist Anton Safronov hat diesem Satz einen grandiosen Kommentar hinzugefügt: »Sitio … Lacrimae« nennt er sein »Interludium«, das also vom Dürsten zu den Tränen führt. 

Safronov greift das Haydnsche Pizzicato-Motiv auf und lässt es von düsteren Bläserwolken umspülen. »Mich dürstet« ist in Zeiten der Klimakatastrophe ja kein individuelles Motiv mehr, sondern existenzielle Not von Abermillionen von Menschen, die in Dürre und Trockenheit zu verdursten drohen. Ein bewegender aktueller Bezug, der die Not der Menschen in Musik übersetzt und natürlich auch der Opfer »der gegenwärtigen Tragödie, in der Tausende von Menschen durch Bombenangriffe und Massenmorde getötet werden und dieses Leiden kein Ende hat«, gedenkt.

»Es ist vollbracht«: Die sechste Sonate über das Sterbewort aus dem Johannesevangelium ist der schwermütigste Teil des Werks, der Höhepunkt des Zyklus und wohl auch eine Art Katharsis. Barocke Pathoswendungen werden durch ein Achtelmotiv beantwortet, das sich von Flöten und ersten Violinen über Fagotte, zweite Violinen und Violen hinunter zu Celli und Kontrabässen windet. Haydn erdenkt sich dazu jedoch eine neue, eine »klassische« Welt: Eine noch unbekannte Gegend, in die Jesus eintritt und wir mit ihm, in der wir uns zurechtfinden, in der wir eine Rolle einnehmen müssen, eine Entdeckung, der wir uns mit Neugier und Staunen stellen können. Boris Filanovsky ergänzt mit seinem »Consummatum est« gekonnt den Eindruck der Sonate Haydns, ehe in der siebten Sonate eine instrumentale Es-Dur-Arie, natürlich wieder im Dreivierteltakt, eine Art Befreiung nach allem Leid darstellt: »Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist«.

Doch damit nicht genug. Im Berliner Konzert entfaltet nun das »De Profundis« der iranischen Komponistin Sara Abazari seine immense Kraft: »Wütende Trompetenschreie über hämmernden Pauken, emporgehoben von einem aus vielen Einzelstimmen vereinten Streicherchor« (Steffen Georgi). Sara Abazari widmet ihr beeindruckendes Werk, dem man in den nächsten Monaten viele Aufführungen wünscht, dem »Zan Zendegi Azadî«-Aufstand im Iran – »Frau Leben Freiheit«! 

Das nervöse Tosen dieser Komposition, das revolutionäre Beben der Menschen im Iran (und andernorts) münden in Haydns überraschenden Schluss, der musikalischen Gestaltung eines Erdbebens: Ein furioser, gerade einmal zweiminütiger Ausbruch, »und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf«. Die Welt ist nach all dem damals und heute Erlebten eine andere, eine gänzlich neue, eine schreckliche auch. Es gab ja wahrlich schon hoffnungsvollere Zeiten als unsere. Aber vielleicht ist gerade dies die wertvollste Aussage dieses herausragenden Konzertabends, eine Art Flaschenpost: Dass wir trotz »Pessimismus des Verstandes« dank des »Optimismus des Willens« (Gramsci) zum Weitermachen verpflichtet sind. 

Und dass es Menschen unterschiedlichster Glaubensrichtungen und Kulturen, verschiedenster Herkunft und Sozialisation sind, die daran arbeiten, dass eine andere, eine bessere Welt möglich ist. Die Passionsmusik Haydns und die zeitgenössischen Kommentare haben jedenfalls beredt Zeugnis davon abgelegt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal