»Bei Pink zu arbeiten, ist befreiend«

Das vom Krieg erschütterte Armenien ist streng konservativ. Eine Aktivistin spricht über die Diskriminierung von queeren Menschen

  • Interview: Elisa Göppert und Hanna Kopp
  • Lesedauer: 6 Min.
Mitglieder von Pink Armenia präsentieren sich auf der Webseite der Nichtregierungsorganisation.
Mitglieder von Pink Armenia präsentieren sich auf der Webseite der Nichtregierungsorganisation.

Im Oktober 2022 begingen Arsen und Tigran in Jerewan Selbstmord, vermutlich wegen ihrer Situation als junges schwules Paar. Der Fall hat sowohl in Armenien als auch international für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Mit welchen Herausforderungen haben queere Menschen in Armenien zu kämpfen?

Interview

Drei Büroräume mitten in Armeniens Hauptstadt Jerewan, die Adresse geheim – zu groß ist die Gefahr eines Angriffs. Sona ist Projektkoordinatorin der gemeinnützigen Nichtregierungsorganisation Pink Armenia und lädt zum Gespräch ein. Seit 2003 ist Homosexualität zwar legal, aber die armenische Gesellschaft bleibt weitgehend queerfeindlich. Pink Armenia setzt sich für Rechte von LGBT und für sexuelle Selbstbestimmung ein. Im Rainbow Europe Country Index rangiert Armenien in puncto LGBT-Rechten auf Platz 47 von 49.

In Armenien gibt es kein Gesetz, das queere Menschen schützt. Opfer von Angriffen vertrauen weder der Polizei noch der Regierung. Wegen der andauernden militärischen Angriffe und Kriege denken die Leute immer wieder, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um über LGBT-Rechte zu sprechen. Die Situation von Frauen ist stark von patriarchalen Strukturen der armenischen Gesellschaft beeinflusst, die sie nicht einmal als eigenständige Menschen ansieht. Sie sind einfach nur jemandes Schwester oder Mutter. Wenn zwei Mädchen oder Frauen spazieren gehen und sich an den Händen halten, wird jede*r denken, sie seien beste Freundinnen. Also ist das Leben für Lesben vielleicht relativ sicher, aber sie werden nicht wirklich respektiert. Trans Personen und Schwule werden in Armenien aber am stärksten diskriminiert. Im August gab es einen Angriff auf eine trans Frau, der live in einer radikalen pro-russischen Telegram-Gruppe übertragen wurde. Der Angreifer rief die Leute dazu auf, dasselbe zu tun.

Können solche Fälle rechtlich verfolgt werden?

In den meisten Fällen wird die Diskriminierung von queeren Menschen von offiziellen Stellen wie dem Gericht nicht als solche anerkannt. Sie untersuchen diese Fälle nicht richtig. In diesen Situationen können unsere Anwälte helfen, aber nicht jede*r ist bereit, vor Gericht zu gehen und zu sagen, meine Mutter oder mein Vater hat mich geschlagen. In vielen Fällen geht es nämlich um häusliche Gewalt durch Verwandte oder Eltern. Viele queere Menschen leben noch bei ihrer Familie und sind nicht bereit, gegen sie auszusagen. Familie ist in Armenien etwas sehr Traditionelles. Selbst wenn Familienmitglieder nichts von deiner sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität wissen, ist es trotzdem schwierig, mit ihnen zusammenzuleben, weil du immer einen großen Teil deiner Persönlichkeit verbergen musst.

Jährlich veröffentlicht ihr einen ausführlichen Bericht über die Situation queerer Menschen in Armenien und informiert über neue Entwicklungen auf politischer und rechtlicher Ebene. Seit 2012 habt ihr so fast 300 queerfeindliche Fälle dokumentiert. Warum gibt es so viel Hass?

Die Situation ist komplex. Armenien ist ein monoethnisches Land und traditionelle sowie religiöse Ansichten sind weit verbreitet. Die Gesellschaft ist zutiefst patriarchal. Männer werden wegen des Krieges wie Könige erzogen. Wann immer es Krieg geben wird, werden sie zur Armee gehen. Wann immer Frauen schwanger werden, sind sie nur glücklich, wenn es ein Junge wird. In Armenien gibt es immer noch viele geschlechtsbedingte Abtreibungen. Ich glaube, für die meisten Armenier*innen sind Geschlechterthemen nicht einmal neu. Sie sind nur schwer für sie zu verstehen. Unser Bildungssystem ist schlecht. Wir haben keinen Sexualkundeunterricht, und in der Schule lernen wir nichts über unsere Rechte. Und Armenien ist auch ein armes Land. Vielleicht haben die Armenier*innen Angst vor Veränderungen, weil es eine sehr alte Nation ist, die nur überlebt hat, weil die Menschen zusammenhielten. Selbst wenn sie einander hassen, halten sie zusammen, um zu überleben. Feminismus, Menschenrechte – für manche scheint das etwas Fremdes zu sein, das nichts mit uns zu tun hat.

Für die Zivilgesellschaft war die Samtene Revolution 2018 ein euphorisches Ereignis. Viele setzten sich gegen Korruption und für eine demokratischere Gesellschaft ein. Es lag ein Wandel in der Luft, die Proteste führten schließlich zu einem Regierungswechsel. Gefordert wurden auch Rechte für queere Menschen. Wie hat sich die Situation der LGBT-Community seitdem entwickelt?

Während der Samtenen Revolution nahmen viele queere Menschen an den Protesten teil. Das gab allen ein Gefühl von Gleichberechtigung. Wir hatten auch die Hoffnung, dass die neue Regierung liberaler und demokratischer sein würde. Heute sehen wir nur eine kleine Änderung in der Gesetzgebung: Es gibt ein neues Antidiskriminierungsgesetz, das unter anderem die Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Religion behandelt. Was in dem Gesetz nicht erwähnt wird, ist die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Pink setzt sich für die Erweiterung des Gesetzes ein. Aber viele Menschen waren untröstlich, weil sie wirklich Hoffnung hatten. Dann kam Covid-19 und von September bis November 2020 der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. In diesen Jahren haben unter anderem queere und feministische Aktivist*innen viel Sozialarbeit geleistet. Viele von ihnen sind jetzt ausgebrannt und machen einfach keinen Aktivismus mehr.

Der Konflikt um Bergkarabach hat eine lange Geschichte und führte im September 2022 erneut zu militärischen Angriffen aus Aserbaidschan. Wie beeinflusst die ständige Kriegsgefahr die Lebenswirklichkeit von queeren Menschen?

Die Menschen gerieten in Panik. Aber für queere Menschen ist die Lage noch einmal anders, wenn man einfach weiß, dass man in seinem Land rechtlich nicht geschützt ist und dann noch eine weitere Bedrohung hinzukommt. Für trans Frauen und bisexuelle oder schwule Männer ist die Situation wirklich schwierig, weil sie in die Armee müssen. Es gab in der Vergangenheit schwere Übergriffe. Für trans Personen ist es außerdem schwierig, ihre Dokumente ändern zu lassen. Ein Land, das sich im Krieg befindet, will keine Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität verlieren. Alle sollen dieser Maschinerie dienen, also werden sie dich nicht einfach aus der Armee abhauen lassen. Bei all dem vergessen wir sogar manchmal, die guten Nachrichten zu feiern. So verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Mai 2022 das Urteil im Fall des Angriffs auf die von Lesben betriebene Kneipe »DIY« im Jahr 2012. Ein Moment, auf den wir zehn Jahre gewartet haben – und wir haben ihn nicht gefeiert. (Das Gericht verurteilte Armenien dazu, Armine Oganezova, Geschäftsführerin der Bar, 12000 Euro Schadenersatz zuzüglich der Rechtskosten zu zahlen, weil der Staat sie nicht vor homophoben Übergriffen geschützt hatte. Anm. d. Red.)

Sprecht ihr viel über den Krieg?

Ich vermeide dieses Thema, weil es mich triggert. Viele Aktivist*innen, mit denen ich spreche, auch aus Aserbaidschan, reden einfach nicht darüber. Jede*r hat jemanden verloren, ich habe einen Freund verloren, jemand anderes hat seinen Bruder oder Vater verloren, und so ist es auch in Aserbaidschan.

Wie sieht eure Arbeit angesichts dieser schwierigen sozialen und politischen Bedingungen aus?

Wir bieten kostenlose rechtliche und psychosoziale Beratung für die LGBT-Community an. Außerdem betreiben wir Lobby- und Bildungsarbeit in verschiedene Richtungen. Wir veranstalten Schulungen für queere Personen, für Menschen, die mit Opfern sexueller Übergriffe sprechen, für Gynäkolog*innen und Sexolog*innen. Bei Pink zu arbeiten, ist sehr befreiend. Man ist mit Menschen zusammen, die ähnlich denken. Unsere Entscheidungen diskutieren wir immer gemeinsam, jede*r soll seine Meinung sagen. Um uns weiterzubilden, veranstalten wir jede Woche Kurse zu verschiedenen Themen, von der Cybersicherheit bis zum Arbeitsrecht. Finanziert wird Pink von internationalen Geldgebern. Der wichtigste Teil unserer Arbeit besteht darin, dass alle Informationen, die wir weitergeben, sicher sind. Details über unsere Veranstaltungen teilen wir nur in einer geheimen Facebook-Gruppe. Unsere Büroadresse ist nirgends zu finden. Und selbst wenn wir Veranstaltungen haben, finden diese immer an einem sicheren Ort statt. Man kann keine Fotos machen oder etwas darüber posten. In gewisser Weise ist unsere Arbeit also nicht sichtbar, obwohl wir eine Menge tun.

Was gibt Ihnen Hoffnung in Ihrem Kampf für die Rechte von queeren Menschen?

Meine Hoffnung ist es, Menschen aufzuklären und sie so gut wie möglich zu informieren. Wir werden viel Geduld und Zeit brauchen. Ich weiß, dass die Menschen hier in Armenien unseren Kampf verstehen können, schließlich werden auch sie diskriminiert, nur weil sie Armenier*innen sind.

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