- Kultur
- Alexander Estis
Das Gesagte und das Ungesagte
»Ezzes von Estis«: Über das, was man besser nicht sagen sollte
Wisst Ihr, was ich mich frage? Vielleicht sollte ich es Euch sagen, aber vielleicht auch nicht. Soll ich es Euch sagen? Was gesagt ist, das kann nicht mehr zurück gesagt werden, aber was nicht gesagt wurde, kann immer noch gesagt werden.
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Daher steht das Ungesagte immer am Anfang und das Gesagte immer am Ende. Trotzdem kommt das Gesagte manchmal am Anfang. Denn es steht ja geschrieben: »Durch des Herrn Wort ist der Himmel geworden«. Aber selbst wenn das Gesagte gleich am Anfang kommt, dann war vorher trotzdem das Ungesagte.
Wenn du also etwas nicht sagen willst, dann solltest du es lieber gleich nicht sagen, anstatt es so lang aufzuschieben, bis du es am Ende trotzdem nicht sagst.
»Den ganzen Tag schaust du mich so böse an, Sara!«
» Itzik, ich will nicht drüber reden!«
»Beseder, in Ordnung, aber möchtest du nicht ausnahmsweise mal mit jemand anderem nicht drüber reden?«
Genauer gesagt, ist das Gesagte aber oft gar nicht genauer gesagt als das Nichtgesagte. Daher lohnt es sich manchmal doch, den richtigen Augenblick abzuwarten, die Gelegenheit abzupassen, und dann ganz plötzlich, ganz unerwartet genau das Richtige nicht zu sagen.
»Weißt du, Kind, vor langer Zeit stritt ich mit Einstein über seine Theorie. Und was denkst du? Ich behielt das letzte Wort!«
»Du behieltst das letzte Wort gegen Einstein? Wie das?«
»Nu, ich behielt das letzte Wort – für mich.«
Ehrlich gesagt, ist das Gesagte aber oft auch nicht ehrlicher als das Nichtgesagte, und auch nicht klüger und nicht freundlicher sowieso.
»Du Schmock, dir würde ich am liebsten alles ins Gesicht sagen!«
»Dann sag mir doch alles!«
»Das hättest du gern, dass ich dir alles sage, damit du dann das letzte Wort hast!«
So verhält es sich mit dem Gesagten: dass es oft besser ungesagt bliebe; oder dass zumindest nicht ungesagt bliebe, wie es sich mit dem Gesagten verhält, denn es steht geschrieben: »Die Worte seines Mundes sind Unheil und Trug.«
Aber wie verhält es sich andererseits mit dem Ungesagten? Das Ungesagte ist wie ein Loch in der Tasche, das du morgen stopfen lassen willst oder übermorgen oder nächsten Monat, sobald du genug Münzen beisammen hast: Das Loch wird immer größer und größer, und alles sinkt hinein, und wenn du endlich vor den Schneider trittst, sind auch die Münzen durchs Loch gefallen und du hast nichts, um den Schneider zu bezahlen.
Aber das ist natürlich nur ein Teil der Geschichte, und der Schneider ist natürlich nicht einfach der Schneider, sondern jemand, der besser ungesagt bleibt.
Warum? Das kann ich Euch sagen. Es gibt einen Namen, von dem man weiß, dass man ihn nicht sagen soll. Und selbst wenn man ihn sagen sollte – man weiß von ihm nicht, wie man ihn sagen soll. Deshalb nimmt man dafür einen anderen Namen, den man aber auch nicht sagen soll, weil man dann sofort den Namen weiß, den man nicht sagen sollte. Aber es gibt einen Namen des Namens, und der lautet: Name. Und ihn darf man sagen.
Aber vielleicht hat das gar nichts mit dem Schneider zu tun und mit der Geschichte, zumal das Gesagte nur ein Teil der Geschichte war und das Ungesagte der andere Teil. Das Ungesagte ist also wie ein Loch, das du stopfen lassen willst, und das Loch wird immer größer und größer, und alles sinkt hinein, und wenn du vor den Schneider trittst, hast du keine Münzen, um ihn zu bezahlen, und stehst da und kannst nichts sagen.
Und während du nichts sagen kannst und nach den Münzen suchst in der Tasche, in der keine Münzen mehr sind, sondern nur ein Loch, wird das Loch noch größer als es vorher schon größer geworden ist, und die ganze Hand sinkt in dieses Loch und du selbst und der Schneider mit all seinen Nadeln und Fäden und Knöpfen und seiner Frau und seinen sieben Söhnen und deren anderthalbtausend Läusen, und überhaupt die ganze Stadt und das ganze Land und die ganze Erdkugel fällt wie des Schneiders billige Glasperle ins Loch.
So verhält es sich mit dem Ungesagten, denn es steht geschrieben: »Es war die ganze Erde eine Sprache.« Das ist gut gesagt und klingt besser, als wenn es nicht gesagt worden wäre. Aber wenn es nicht gesagt worden wäre, hätte es vielleicht noch besser gesagt werden können.
Wisst Ihr also, was ich mich frage? Vielleicht sollte ich es Euch nicht sagen, aber vielleicht doch. Und genau das ist es, was ich mich frage.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.