Woker Konservatismus

Gegen die US-Politik wirken die Skandälchen hierzulande etwas langweilig, findet unsere Kolumnistin

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 3 Min.
Überführter Hochstapler und trotzdem ganz oben dabei: Der republikanische US-Politiker George Santos
Überführter Hochstapler und trotzdem ganz oben dabei: Der republikanische US-Politiker George Santos

Howdy aus Texas, liebe Lesende! Ich bin ja eigentlich konservativ. Och, nun schauen Sie doch nicht so enttäuscht. Ja, Sie lesen schon noch die richtige Zeitung. Taylor Swift hat ihre Swifties und Angela Merkel hat in mir eine treue Merkeli. Wessen Fan ich in der heutigen politischen Landschaft Deutschlands wäre, vermag ich nicht mehr zu sagen, denn bald ist es sieben Jahre her, dass ich sie für die texanische eintauschte, wo ich nun als Leftie gelte. Ich blieb weitestgehend dieselbe, aber der Konservatismusbegriff wandelte sich: Todesstrafe? Barbarisch, unethisch, oft rassistisch. Laxe Waffengesetze? So mittelalterlich wie die Beulenpest! Abtreibungsverbote? Ja, sind wir hier bei Josef Stalin?

Es scheint mir manchmal so, als hätte Lothar Matthäus den rechtsgerichteten US-Medien und ihren Konsumenten die politischen Termini ins Englische übersetzt. Von Kommunismus ist die Rede, wenn Liberale so ganz unkommunistische Dinge fordern wie mehr Demokratie. Faschismus ist, wenn bestimmte Waffen verboten werden sollen. »Woke« ist jedermann, der nicht an einer Jahrhundertseuche sterben will. Auch gelte ich hier als grün, womit ich mich selbst niemals zu identifizieren wagte. Allein der Verzicht auf Plastik-Wasserflaschen macht unsere Familie nämlich zu texanischen Thunbergs. Freunde sind jedes Mal erschreckt darüber, in unserem Kühlschrank keine vorzufinden. Auch dass ich zum Reinigen Stofflappen nehme, die ich wieder wasche, wo hier jede gute Hausfrau ausschließlich Küchenrolle verwendet, macht mich nicht nur zu einem Leftie, sondern auch noch zu einem Hippie.

Bei jedem Lebensmitteleinkauf bekommt man in Texas Dutzende dünne Plastiktütchen hinterhergeworfen. Ich erzähle lieber niemandem — außer Ihnen — dass ich diese aufbewahre und teilweise meinen Eltern nach Deutschland mitgebe. Warum nimmt die Talke diese Plastiktüten überhaupt an, denken Sie sich bestimmt? Ich versuchte mehrmals, sie abzulehnen, aber die Kassierer und Einpacker widersetzten sich, und beim Selbst-Check-Out streikte das System, weil das Gewicht der Waren nicht auf kleine Tüten verteilt war, sondern summiert in einem großen Stoffsack. Ich muss also darauf vertrauen, dass Sie in Deutschland die Erde für uns retten. No pressure!

So gruselig die amerikanische Politikwelt scheint, so unterhaltsam ist sie aber auch. In Deutschland haben wir kleine Dissertationsskandälchen, bei denen ein paar gut ausgebildete Politiker abschreiben und schlecht zitieren, um als noch besser ausgebildet dazustehen. Die ehemalige amerikanische First Lady Melania Trump fakte ihren einzigen Uniabschluss und Fremdsprachenkenntnisse, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mal ansatzweise besitzt, aber mit solchen Bagatellen hielt sich die US-Presse gar nicht erst auf — es gibt Schlimmeres. So hat etwa George Santos, der für die Republikaner im US-Repräsentantenhaus sitzt, gleich fast seine ganze Vita erfunden. Deutschland hatte einst einen Bundespräsidenten, der sich zu ein paar Diners hat ausführen lassen. Lachhaft für einen Clarence Thomas, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, der nicht nur zu Luxusurlauben, Privatflügen und Superyachtausflügen eingeladen war, sondern auch noch Kunstwerke und eine 19 000-Dollar-Bibel einsackte. Melanias (Noch-?) Ehemann und sein Team sollen reihenweise Kampagnenspender belogen haben. Zahlreiche seiner Mitarbeiter, Berater und Verbündeten wurden verurteilt oder festgenommen. Stormy Daniels, die stürmische Stripperin, Pornodarstellerin und Regisseurin, verklagte den Ex-Präsidenten, der sie mit Spendengeldern zum Schweigen gebracht haben soll, verlor aber das Verfahren und muss ihm jetzt viel mehr zahlen, als er ihr ursprünglich zugesteckt haben soll. Gegen dieses US-Sodom wirkt Deutschland wie ein Mekka des Anstands. Sogar ein europäischer Politiker wie Berlusconi erscheint einem als Ehrenmann, fast ein Dalai Lama; aber nein, lassen wir das lieber.

Trotz all dieser Blamagen und der kürzlichen Anklage gegen ihn will Donald ernsthaft wieder als Präsident kandidieren. Und er könnte auch noch gewinnen und theoretisch gar aus dem Gefängnis heraus regieren. Einen Knasti zum Präsidenten zu wählen, das wäre mal so richtig »woke«.

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