Hoffen auf einen 1. Mai nach Erdoğan

In der Türkei stand der Tag der Arbeiterbewegung im Zeichen der anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 4 Min.

Der letzte 1. Mai unter der AKP – das war die Hoffnung aller, die sich am Montag im Istanbuler Bezirk Maltepe zum Tag der Arbeit versammelten. Abgelegen von Wohnvierteln und möglichem Laufpublikum kamen dort linke Parteien und viele Gewerkschaften zusammen. Aus zwei Richtungen marschierten die Blöcke auf die Picknick-Wiese von Maltepe, wo am Nachmittag die Abschlusskundgebung stattfand. Wie viele Menschen genau vor Ort waren, wurde bisher nicht bekannt gegeben. Grobe Schätzungen schwanken zwischen 60 000 und 100 000 Teilnehmenden. Fest steht, dass die Beteiligung größer war als im Jahr zuvor, wofür es mehrere Gründe gibt.

In weniger als zwei Wochen finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, und obwohl der Wahlkampf verhältnismäßig unspektakulär abläuft, wird der 14. Mai als Beginn einer neuen Zeitrechnung betrachtet. Die Opposition rund um die CHP, der sogenannte Sechsertisch oder Millet İttifakkı, hat reale Chancen auf einen Wahlsieg, ebenso ihr Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Deren potentielle Regierungsübernahme wurde von vielen Redner*innen am 1. Mai als erster Schritt zu einem demokratischen Wandel bezeichnet. Viele erhoffen sich eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit, die Bekämpfung von Korruption und eine Eindämmung der Inflation.

Auch der historische Taksim-Platz würde dann wieder der Kundgebungsort für den 1. Mai werden, kündigte die Vorsitzende der Konföderation progressiver Arbeiter*innengewerkschaften DİSK, Arzu Çerkezoğlu, in ihrer Rede an: »Von 1977 bis zu den Gezi-Protesten hat dieser Platz eine große Bedeutung. Die Herrschenden fürchten sich davor, dass Millionen Menschen ihren Widerstand an so einem mächtigen Ort zur Sprache bringen. Wir glauben daran, ja wir wissen, dass der 1. Mai am Taksim-Platz in diesem Jahr zum letzten Mal verboten sein wird.« Der Wahltag sei ein Neuanfang und im nächsten Jahr werde man Arm in Arm in den Gezi-Park ziehen. Nachdem die AKP-Regierung noch Anfang der 2010er Jahre die Mai-Kundgebung auf dem Taksim-Platz zugelassen hatte, wurde sie 2013 untersagt – kurz darauf brachen die Proteste im anliegenden Gezi-Park aus.

Ein weiterer Faktor, für die höhere Teilnehmer*innenzahl in diesem Jahr ist der Zuwachs, den politische Parteien und Gewerkschaften verzeichnen können. Allen voran war die große Beteiligung der Arbeiter*innenpartei der Türkei, Türkiye İşçi Partisi TİP zu bemerken, deren Anhänger*innen allein wohl ein Viertel der gesamten Demonstration ausmachten. Im Vergleich zum Vorjahr war die CHP beim diesjährigen 1. Mai kaum präsent, während der TİP-Block um das Dreifache größer war.

Um ein sehr wahrscheinliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat*innen der HDP nun in Form der Grünen Linkspartei Yeşil Sol Parti YSP bei den Wahlen an. Zusammen mit der TİP und anderen linken Parteien bildet sie ein Bündnis. Jedoch stellt sie in vielen Provinzen eigene Kandidat*innen auf, was von Seiten der YSP und ihrer mehrheitlich kurdischen Basis als Konkurrenz um Wählerstimmen gewertet wird. Vielmehr schafft es die TİP jedoch, den linken Rand der CHP zu überzeugen und wird hier Stimmen holen, statt der ehemaligen HDP Stimmen abzunehmen.

Die Demonstration an sich lief ohne größere Zwischenfälle ab, auch die Polizeipräsenz war bis zum Ort der Endkundgebung auffällig gering. Erst bei den Taschenkontrollen an der Picknick-Wiese von Maltepe kam es zu Auseinandersetzungen, nachdem die Polizei plötzlich das Mitführen von Fahnenstangen untersagte. Auch Publikationen und Zeitungen der Demonstrierenden wurden streng kontrolliert, sodass manche Teilnehmende aus der Kunstszene kurzerhand die von ihnen geschriebenen Gedichte auf einen angeblich möglichen terroristischen Gehalt analysieren mussten, um die Polizei von ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen.

Ob der 1. Mai in diesem Jahr tatsächlich der letzte unter dem AKP-Regime gewesen sein wird, entscheidet sich in zwei Wochen. Dass viele Redner*innen aus Gewerkschaften und Parteien eine Regierungsübernahme der oppositionellen Millet İttifakkı als Verbesserung für die Lohnabhängigen präsentierten, ist jedoch zu optimistisch. Die schwere Wirtschaftskrise, die seit 2018 in der Türkei herrscht und mit einer hohen Inflation, sinkenden Löhnen und einer massiven Verarmung der Bevölkerung einhergeht, will die Opposition mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung lösen. Gleichzeitig stellt sie keine grundlegende Veränderung des repressiven Gewerkschaftsrechts in Aussicht.

Die spontanen Streiks im vergangenen Jahr und die kämpferische Organisierung in einigen Industriebereichen in der Türkei haben jedoch gezeigt, dass ein Kampf für Arbeiter*innenrechte auch außerhalb des vorgeschriebenen Rahmens erfolgreich sein kann. Ein Regierungswechsel wäre demnach erst der Anfang eines zugespitzten Kampfes gegen die Abwälzung der Wirtschaftskrise auf die Lohnabhängigen, worauf Vertreter*innen von Arbeiter*innenparteien und Gewerkschaften ihre Basis vorbereiten sollten.

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