Düstere Aussichten für Erdoğan

In der Türkei zeichnet sich ein Machtwechsel ab

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 3 Min.

In der Türkei werden am 14. Mai der Präsident und das Parlament gewählt. Drei Monate nach dem Erdbeben, das in der Türkei mehr als 47 000 Menschen getötet und Hunderttausende obdachlos gemacht hat, wird der Urnengang zum Lackmustest für den 69-jährigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Er tritt mit seiner islamisch-konservativen AKP zusammen mit der nationalistischen MHP an. Unter Führung der sozialdemokratischen CHP haben sechs Oppositionsparteien ein Bündnis gegen ihn geschmiedet, das berechtigte Hoffnungen auf einen Machtwechsel hat.

Einer aktuellen Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Piar zufolge hat das Bündnis unter dem Spitzenkandidaten Kemal Kılıçdaroğlu (74) einen deutlichen Vorsprung vor Erdoğan. 57,1 Prozent wollen Kılıçdaroğlu als Präsidenten haben, Erdoğan kommt nur auf 42,9 Prozent. Während laut Umfrage die AKP 30,8 Prozent der Stimmen auf sich vereinen könnte, entfielen auf die CHP 32,2 Prozent. Im Januar kam die AKP bei einer Umfrage desselben Instituts noch auf 31,2 Prozent, nun zog die CHP an der AKP vorbei.

Schwere Wirtschaftskrise

Die Türkei ist von einer Inflation von zeitweise bis zu 85 Prozent und einer Erwerbslosenquote von rund zehn Prozent betroffen. Daneben kritisieren die Menschen auch das schlechte Management nach dem Erdbeben. Vor allem in den ersten Tagen nach dem Beben reagierte Erdoğans Regierung planlos und langsam – dabei hatte Erdoğan versprochen, durch die Einführung des Präsidialsystems 2018 den Staat effektiver zu machen.

Entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Wahl dürften die kurdischen Gebiete haben. Dort genießt die linke Demokratische Partei der Völker (HDP) starken Rückhalt und könnte landesweit 11,6 Prozent der Stimmen erreichen. Die HDP gehört keinem Bündnis an, hat aber angekündigt, Oppositionsführer Kılıçdaroğlu unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen. Türkische Medien berichten davon, dass sie auf eigene Kandidat*innen verzichten würde, um das Bündnis zu stärken. Somit könnte die Partei zum Königsmacher für Kılıçdaroğlu werden.

Gegen die HDP läuft jedoch ein Verbotsverfahren, am 11. April gibt es dazu eine Verhandlung vor dem Verfassungsgericht. Das Verfahren dürfte bis nach den Urnengang andauern. Somit weiß die Partei nicht, ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen kann. Sollte es ihr verboten werden, hat sie mit der Yeşil Sol Parti (»Grüne Linkspartei«) eine Ersatzpartei gefunden, zu deren Wahl sie dann aufrufen würde. Diese bereits 2010 gegründete Kleinpartei hatte in den letzten Monaten im gesamten Land Parteistrukturen aufgebaut, um zu den Wahlen zugelassen zu werden.

Zweifel an freien Wahlen

Der seit 2016 inhaftierte, frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş teilte das Logo der Yeşil Sol auf Twitter und forderte die Menschen auf, es sich auszudrucken und an Kühlschränke und Zimmertüren zu kleben. »Wir werden es brauchen«, schrieb er. Der Vorsitzende der Istanbuler HDP, Ferhat Encü, sagte der kurdischen Nachrichtenagentur Rudaw, die Partei würde ihr endgültiges Vorgehen noch absprechen und bald bekannt geben.

Beobachter hegen Zweifel daran, ob die Wahlen frei und fair durchgeführt werden und ob Erdoğan eine Niederlage überhaupt anerkennt. Sollte er die Wahl verlieren, drohen ihm vermutlich Anklagen wegen Korruption.

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