Einheitsfront gegen Rentenreform in Frankreich

In Frankreich mobilisierten die Gewerkschaften am 1. Mai gegen die Politik von Präsident Macron

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Der 1. Mai stand dieses Jahr in Frankreich ganz im Zeichen der anhaltenden Proteste gegen die Rentenreform. Während die Regierung darauf gesetzt hatte, dass der bereits dreieinhalb Monate anhaltenden Bewegung der Atem ausgehen und sie nach und nach versanden würde, wollten Gewerkschaften und linke Parteien mit ihrer Mobilisierung beweisen, dass der Widerstand ungebrochen ist. An den Demonstrationen nahmen in ganz Frankreich nach Angaben der Organisatoren 2,3 Millionen Menschen teil, davon 550 000 allein in Paris. Für einen 1. Mai ist das ein großer Erfolg, der dem Höhepunkt der zurückliegenden zwölf Streik- und Aktionstage gegen die Reform nahekommt, als am 7. März insgesamt 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind.

Auf dem Platz der Republik, wo die Pariser Demonstration ihren Anfang nahm, erklärte der Ex-Präsidentschaftskandidat der Linken, Jean-Luc Mélenchon: »Der 1. Mai ist nicht das Fest der Arbeit, sondern das Fest derer, die arbeiten.« Als Antwort an Präsident Emmanuel Macron, der kürzlich gesagt hatte, er »ziehe die Revolution dem Aufruhr vor«, erklärte Mélenchon: »Wir werden ihn am 14. Juli lehren, was das Wort Aufruhr bedeutet. Seit 1789 gibt es in Frankreich keinen anderen Herrscher mehr als das Volk.«

Das Innenministerium setzte an dem Tag 12 000 Polizisten ein. Trotzdem konnte es den 1. Mai nicht befrieden. In Paris, Lyon, Rennes und in weiteren Städten kam es am Rande der Demonstrationen zu Ausschreitungen, Sachbeschädigungen, Brandstiftungen und Zusammenstößen mit der Polizei, die von den Gewerkschaften verurteilt werden. In diesem Zusammenhang erklärte ein Polizeigewerkschafter, dass viele Mitglieder seiner Organisation »nicht länger auf der Straße ihren Kopf hinhalten wollen, weil die Politiker die sozialen Probleme nicht auf dem Verhandlungsweg gelöst haben«.

Erstmals haben die Ordnungskräfte Drohnen mit Kameras eingesetzt, um die Demonstrationszüge komplett zu überwachen. Während der Generalsekretär der größten Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, gegen die Maßnahme nichts einzuwenden hatte, solange die Polizei dadurch die Gewaltakte radikaler Kräfte verhindern» könne, wie er es formulierte, bekräftigte die Gewerkschaft CGT ihre ablehnende Haltung und warnte vor einem «Abgleiten in Richtung auf einen totalen Überwachungsstaat». So gingen einzelne Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen in verschiedenen Städten juristisch gegen die Anwendung von Drohnen vor, bei denen es sich ihrer Meinung nach um einen Missbrauch von Antiterrormethoden handele. Die Gerichte entschieden durchweg, dass der Einsatz von Drohnen angemessen sei.

Über das vergangene Wochenende und den 1. Mai hinweg gab es auch wieder Streiks gegen die Rentenreform. Dabei ist entscheidend für den Druck, den die Gegner der Rentenreform auf die Regierung ausüben konnten und noch können, die beispiellose Einheitsfront aller großen Gewerkschaften des Landes. Ihre führenden Repräsentanten gingen dem Demonstrationszug in Paris voran. «Unsere gemeinsame Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen, ist ungebrochen», erklärte CFDT-Generalsekretär Laurent Berger. Die Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, versicherte: «Wir wissen, dass wir noch siegen können. Während Emmanuel Macron alles tut, um uns zu isolieren, konnten wir unsere Rolle bei der Verteidigung des französischen Sozialmodells unter Beweis stellen.»

Dass die Gewerkschaften durch die Protestbewegung seit Anfang des Jahres an Gewicht und Legitimität gewonnen haben, zeigt nicht zuletzt die Zahl von rund 30 000 neugewonnenen Mitgliedern sowohl bei der CFDT als auch bei der CGT. Da Umfragen zufolge zwei Drittel der Franzosen die Rentenreform der Regierung ablehnen, setzen die Gewerkschaften große Hoffnung in ihren Antrag auf die Organisierung einer Volksabstimmung, über den der Verfassungsrat diesen Mittwoch entscheiden will.

Dagegen möchte die Regierung endlich wieder «zur Tagesordnung übergehen». So hat Premierministerin Élisabeth Borne die Gewerkschaften zu einem noch zu präzisierenden Termin für ein Gespräch über mögliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen eingeladen. Ein solches Treffen hatte bereits unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsrates über die Rechtmäßigkeit der Reform stattfinden sollen, wurde aber von den Gewerkschaften geschlossen abgelehnt.

Jetzt nach der eindrucksvollen Mobilisierung für die Demonstrationen zum 1. Mai hat sich die Situation geändert, meint die CFDT. Sie hat bereits ihre Teilnahme zugesagt, fordert aber auch weitere Tagesordnungspunkte, etwa über Lohnerhöhungen zum Ausgleich der Inflation. Die Gewerkschaft CGT, die nach wie vor lautstark die Rücknahme der Rentenreform fordert, hat hingegen noch nicht entschieden, ob sie an dem Treffen teilnimmt oder ihm demonstrativ fernbleibt. Einzelne Kommentatoren wollen in dieser unterschiedlichen Haltung bereits erste Risse in der Einheitsfront der Gewerkschaften sehen.

Die Auseinandersetzungen um die Reform haben selbst Auswirkungen auf die Kreditwürdigkeit Frankreichs auf den internationalen Finanzmärkten. So hat die Ratingagentur Fitch, die für Investoren die verschiedenen Länder bewertet, am vergangenen Freitag Frankreich von der Note AA auf AA- zurückgestuft, nachdem das Land bereits Ende 2021die Bestnote AAA verloren hatte. Begründet wurde die negativere Neubewertung mit der hohen Staatsverschuldung und dem weiter steigenden Budgetdefizit, vor allem aber auch mit der «politischen Ausweglosigkeit» und den «oft gewaltigen sozialen Bewegungen», die nach Überzeugung der Agentur den Handlungsspielraum der Regierung und die Umsetzung der Reformpläne von Präsident Macron «stark einschränken».

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