Das Land und seine Mythen

Orlando Figes hat sich wieder einmal in der russischen Geschichte umgeschaut

  • Horst Schützler
  • Lesedauer: 5 Min.

Kein anderes Land habe seine eigene Geschichte so häufig neu erfunden, kein Land eine Geschichte, die so sehr der Wechselhaftigkeit von Ideologien unterworfen war, konstatiert der 1959 geborene Professor für Geschichte in London Orlando Figes, der zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens gehört und als Autor hochgeschätzter Bücher zur russischen Geschichte weltweit bekannt ist. In der aktuellen Auseinandersetzung um den Ukraine-Krieg und das dabei von beiden Seiten propagandistisch bemühte Geschichtsverständnis kann seine jüngste Publikation weiterhelfen. Die englische Originalausgabe wurde dankenswerterweise umgehend ins Deutsche übertragen und publiziert.

Das neue Werk von Figes beginnt im ersten Jahrtausend, als die russischen Ländereien von slawischen Stämmen besiedelt wurden und endet mit Wladimir Putin, dem derzeitigen Präsidenten. Gerade er bemüht Mythen der Geschichte wie kaum einer seiner Vorgänger. Sie sollen sein autoritäres Regime stützen und stärken.

Die diesem Buch zugrunde liegende These lautet: Russland ist in den Ideen der Vergangenheit verwurzelt und wird von diesen zusammengehalten. Dabei werde die Geschichte je nach Bedarf umgeschrieben. Die Geschichtsschreibung in Russland sei seit ihren Anfängen an, den mittelalterlichen Chroniken, eng mit mythischen Vorstellungen verflochten gewesen: den Mythen des »Heiligen Russland«, des »Heiligen Zaren«, der »russischen Seele« oder Moskau als »Drittes Rom« und dergleichen mehr. Solche Mythen seien grundlegend für das russische Verständnis der eigenen Geschichte und des nationalen Charakters geworden. Sie haben häufig die westliche Politik und Haltung gegenüber Russland geleitet – und fehlgeleitet.

Um das heutige Russland zu verstehen, müssten wir diese Mythen von ihrer Hülle befreien, deren historische Entstehung erklären und ausloten, inwiefern sie die Handlungen und Identität des Landes beeinflussten. Denn mit der Beständigkeit dieser Mythen lasse sich vieles auch im heutigen Russland erklären: die anhaltende Kraft des orthodoxen Glaubens, die Sehnsucht der Menschen nach einem »Väterchen« ebenso wie der Traum nach dem Himmel auf Erden und revolutionäre Utopien, selbst wenn sich diese als Albtraum im stalinistischem Terror entpuppten.

Figes, ein anspruchsvoller und politisch engagierter Historiker, der seine Bücher auch für Laien verständlich verfasst und mit vielen lebendigen Episoden auflockert, begnügt sich hier mit einer knappen Darstellung wirtschaftshistorischer Entwicklungen und politischer Ereignisse. Er konzentriert sich auf soziale, kulturelle, ideologische Prozesse, Bewusstsein und Verhaltensweisen. Entstehung, Inhalt, Nutzung, Deutung und gesellschaftliche Wirksamkeit von Mythen stehen im Vordergrund. Die Begrifflichkeit Mythos bleibt allerdings unscharf.

Mythisch umstritten sind in der Historiografie seit Jahren die Kiewer Rus und die Figur von Wolodymyr alias Wladimir. Namensvetter Wladimir Putin und sein Regime nehmen diesen als den Gründer des modernen russischen Staates in Beschlag, die Ukrainer, deren derzeitiges Idol und Integrationsfigur Wolodymyr Selenskyj ist, verehren wiederum die mythische Gestalt als »Schöpfer des europäischen Staates Rus-Ukraine«. Historisch gesehen hat es, betont Figes, wenig Sinn, im 10. Jahrhundert oder generell im Mittelalter von einem »Russland« oder einer »Ukraine« als Nation oder Staat zu sprechen. Beim Streit um Wolodymyr/Wladimir handele es sich um zwei ahistorische, miteinander unvereinbare Gründungsmythen mit politischer Ausdeutung.

Figes macht weiter darauf aufmerksam, dass die heutige russische Politik allzu häufig ohne Kenntnis der Vergangenheit des Landes beschrieben wird. Um zu begreifen, was Putin wirklich für Russland und die Welt bedeutet, müssen wir eruieren, in welchem Verhältnis seine Herrschaft zu den langfristigen Mustern der russischen Geschichte steht und was es für Russen heißt, wenn er an jene »traditionellen Wertvorstellungen« appelliert. Vom Aufstieg Moskowiens, also Moskaus, dem Gründungskern des russischen Staates, bis hin zu Putins Krieg gegen die Ukraine zeige sich, dass stets die Stärkung der eigenen Sicherheit Vorrang hatte, Nachbarländer schwach, Kriege jenseits der eigenen Grenzen und feindliche Mächte auf Abstand gehalten werden sollten. Heißt das, Russland sei seinem Wesen nach expansionistisch, wie so viele Kritiker in der heutigen Zeit behaupten? Oder ist diese Tendenz eher als eine Defensivreaktion zu werten? Eine bedenkenswerte Frage, die Figes aufwirft.

Der Brite geht auch auf den Personenkult um Lenin und Stalin sowie den Mythos des »Großen Vaterländischen Krieges« mit seinen vielen Heldenerzählungen ein. Er betont aber auch: »Kein Mensch vermag den außerordentlichen Mut zu bestreiten, den das sowjetische Volk im Krieg bewies.«

Ausgiebig befasst sich Figes mit der mehrheitlichen Zustimmung, die Putin trotz autokratischer Macht und Krieg in der eigenen Bevölkerung findet. Der Autor übt zurückhaltende Kritik an der Nato und deren Osterweiterung, wendet sich aber auch klar gegen die völkerrechtswidrige Aggression Russlands und sucht nach einem Ausweg. Figes vermutet drei Optionen: Erstens eine militärische Niederlage Russlands, die am wenigsten wahrscheinliche Möglichkeit, wenn ein »Sieg« für die Ukraine die Vertreibung der russischen Truppen aus ihrem gesamten Staatsgebiet bedeute. Eben dies halten viele ukrainische Politiker jedoch für unerlässlich. Zweitens ein Patt, ein dauerhaft eingefrorener Konflikt mit russischen Truppen im Donbass und im Osten der Ukraine, wobei jedoch keine der beiden Seiten bereit sein wird, die Kämpfe zu beenden. In diesem Fall gebe es keine reale Basis für konstruktive Friedensgespräche. Letztlich wird jedoch die Ukraine gezwungen sein, sich mit dem Kreml auf einen Kompromiss zu einigen, zu möglichst guten Bedingungen mit internationalen Sicherheitsgarantien. Die dritte Option wäre ein russischer Sieg in irgendeiner Form, das wahrscheinlichste Ergebnis, wenn man bedenkt, welche Ressourcen dem Kreml zur Verfügung stehen.

Für Figes ist dieser Krieg ein unnötiger, geboren aus Mythen. Wenn er nicht bald beendet wird, wird er auch das Beste an Russland zerstören, dessen vielfältige Kultur und Geisteswelt, die Europa seit tausend Jahren bereichern. Russland wird nach diesem Krieg ärmer, unberechenbarer und in der Welt stärker isoliert sein. Die Zukunft dieses Landes mit enormen Ressourcen und großen menschlichen Potenzialen ist ungewiss.

Ein beeindruckendes, lesenswertes Buch, auch wenn manch einer Widerspruch an dieser oder jener Stelle erheben mag.

Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands. A. d. Engl. v. Norbert Juraschitz. Klett-Cotta, 456 S., geb., 28 €.

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