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Chiles Verfassung: Neuer Anlauf ohne neue Hoffnung
Chiles Linke sieht dem zweiten Verfassungsprozess mit viel Skepsis entgegen
Gilda Pérez stockt kurz, überlegt und sagt: »Ich weiß noch gar nicht, wen ich wählen soll, ich weiß nicht einmal, wo mein Wahllokal ist.« Das sei der 30-jährigen Angestellten eines Supermarkts so noch nie passiert. Noch vor wenigen Jahren begleitete sie voller Hoffnung den verfassungsgebenden Prozess, heute sagt sie: »Ich habe immer noch einen Kater vom 4. September«, als 62 Prozent und damit fast zwei Drittel der Chilen*innen den damaligen progressiven Verfassungsentwurf an der Urne ablehnten.
Am 7. Mai soll unter Wahlpflicht ein neuer 50-köpfiger Verfassungsrat gewählt werden. Doch in diesem zweiten verfassungsgebenden Prozess ist alles anders. Nach dem im September 2022 gescheiterten Anlauf, die Verfassung von 1980 aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-90) zu ersetzen, einigten sich Ende vergangenen Jahres die Parteien im Parlament auf einen Neustart. Eine sogenannte Expert*innenkommission, die vom Parlament bestimmt worden ist, schreibt bis Ende Mai einen ersten Verfassungsentwurf, der von Juni bis Anfang November vom gewählten Verfassungsrat verfeinert und korrigiert werden soll. Im Dezember wird die Bevölkerung ein weiteres Mal über den Entwurf abstimmen.
Über 200 Kandidat*innen bewerben sich für die 50 Sitze des Verfassungsrates, der zur Hälfte mit Männern und Frauen besetzt wird. Je nach Region werden zwei bis fünf Kandidat*innen in den Rat geschickt. Sofern mindestens 1,5 Prozent der Wähler*innen auf einer exklusiven Liste für Indigene abstimmen, bekommen diese einen bis zwei Sondersitze im Rat, die zu den 50 bestehenden Sitze hinzukommen. Unter den Kandidat*innen sind viele ältere Politiker*innen wie die 68-jährige Gloria Hutt, eine ehemalige Transportministerin unter dem rechten Präsidenten Sebastián Piñera und Tochter eines hochrangigen Generals unter der Militärdiktatur.
Umfragen zeigen, dass sich bis dato etwa ein Drittel der Bevölkerung noch nicht festgelegt hat, wer gewählt wird. Trotzdem deutet alles auf einen Rechtsrutsch hin. Insbesondere die rechtspopulistische Partido de la Gente und die rechtsradikale Partido Republicano dürften große Stimmgewinne machen. Die linke Regierungskoalition, bestehend aus linken Parteien der von 1990 bis 2010 regierenden Concertación de Partidos por la Democracia, dem Frente Amplio des Präsidenten Gabriel Boric und der Kommunistischen Partei, wird es laut den Umfragen kaum schaffen, über 20 Prozent der Stimmen zu ergattern. Parteiunabhängige Kandidat*innen gibt es kaum, da das bestehende Wahlgesetz deren Teilnahme enorm erschwert.
Der Spielraum des neuen Verfassungsrates ist bereits festgelegt. Die Parteien des Parlaments einigten sich auf zwölf Grundpfeiler einer neuen Verfassung, die soziale Rechte und bestehendes Privateigentum garantieren soll. Das politische System, mit zwei parlamentarischen Kammern und einer starken Zentralisierung des Staates, soll Bestand haben. Ebenso die militarisierte Polizei, Carabineros de Chile, verantwortlich für einen großen Teil der Menschenrechtsverletzungen beim Niederschlagen der Proteste von 2019. Das »Recht auf Leben« ist ebenfalls in den Grundpfeilern verankert und wird einen Ausbau des sehr limitierten Rechts auf Abtreibung deutlich erschweren.
Für viele Linke und Befürworter*innen des ersten verfassungsgebenden Prozess ist dieser erneute Anlauf bereits gescheitert. So auch für den Lehrer Sebastián Bello: »Die rechten Kräfte werden sich durchsetzen – ich überlege mir ernsthaft, im Dezember die Verfassung abzulehnen.« Die Parlamentarierin Carol Kariola, der regierenden Kommunistischen Partei, verteidigte gegenüber »nd« den neuen verfassungsgebenden Prozess als beste Möglichkeit unter den bestehenden Umständen, die Verfassung aus der Militärdiktatur endgültig hinter sich zu lassen.
Der fehlende Enthusiasmus vieler Linker liegt auch an der Zusammensetzung der Expert*innenkommission. Die Hälfte der Mitglieder sind dem politisch rechten Spektrum zuzuordnen, darunter mehrere ehemalige Regierungsmitglieder der Regierung von Sebastián Piñera, die von 2018 bis 2022 im Amt war. So etwa der ehemalige Justizminister Hernán Larraín, der wegen seiner Nähe zur damaligen Colonia Dignidad und dem Sektenführer Paul Schäfer seit Jahren öffentlich in der Kritik steht.
Anfang April präsentierte die Kommission einen ersten Entwurf. Insbesondere die sehr allgemein gehaltenen Artikel zum Thema Umweltschutz wurden breit kritisiert. Der Direktor von Greenpeace Chile, Matías Asun, schrieb auf Twitter »ich empfinde die Artikel beschämend, sowohl inhaltlich als auch in der Form, in der sie geschrieben sind.« Sie seien Ausdruck von fehlender Fachkenntnis.
Der Rechtsprofessor Arturo Fermandois, der der rechten Partei Renovación Nacional nahe steht, verteidigte gegenüber einer lokalen Zeitung den Entwurf, »er ist sehr sozial und in keinem Fall eine Kontinuität gegenüber der alten Verfassung.« Mittlerweile sind über 600 Ergänzungen innerhalb der Kommission präsentiert worden, die bis Ende Mai ausdiskutiert werden sollen.
Während linksrevolutionäre Kräfte für den kommenden Sonntag dazu aufrufen, ungültig zu wählen, versuchen linke Parteien den neuen Prozess etwas zu beeinflussen. Der Lehrer Bello hat inzwischen die Option verworfen, ungültig zu wählen. »Eigentlich wurde uns nie etwas geschenkt, wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass etwas Gutes beim verfassungsgebenden Prozess rauskommt.« Die neue Verfassung im Plebiszit ablehnen, kann er ja immer noch.
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