Frankreich: Manche müssen länger arbeiten

Macrons Rentenreform ist kaum mehr aufzuhalten

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Viele Gründe, wütend zu sein, hier am 1. Mai in Paris.
Viele Gründe, wütend zu sein, hier am 1. Mai in Paris.

Für Präsident Emmanuel Macron und seine Regierungschefin Elisabeth Borne ist die Rentenreform bereits »über den Berg«. Bestärkt werden sie durch die Entscheidung des Verfassungsrates vom Mittwoch, zu diesem Thema kein Referendum zuzulassen. Kaum Aussicht auf Erfolg hat auch eine kleine Gruppe unabhängiger Abgeordneter der Zentrums-Partei LIOT, die am 8. Juni einen Gesetzentwurf einbringen will, der das neue Renteneinstiegsalter von 64 Jahren und damit den Kern der Reform rückgängig machen würde. Selbst wenn sie den Großteil der Opposition hinter sich versammeln könnten, dürfte ihr Vorstoß ähnlich enden wie der vom 20. März, als beim Votum über den von ihnen eingebrachten Misstrauensantrag neun Stimmen zum Sturz der Regierung fehlten.

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Bei den Gewerkschaften, die seit Anfang des Jahres eine in der jüngeren Geschichte beispiellose Einheitsfront gegen die Rentenreform gebildet hatten, scheint es jetzt Unterschiede in der Einschätzung der entstandenen Lage zu geben. Während die CGT, FO, SUD und andere kämpferisch auftretende Gewerkschaften weiter zum Widerstand trommeln, ist die größte Gewerkschaft CFDT, die sich in der Vergangenheit nicht selten für Reformen offen zeigte, bereits auf einen »pragmatischeren« Kurs eingeschwenkt. Sie hat die Einladung von Premierministerin Borne zu einem Treffen mit den Gewerkschaften angenommen, bei dem über bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne gegen die Inflation, Arbeitsplatzbeschaffung, Berufsausbildung, Arbeitsunfälle und ähnliche Themen gesprochen werden soll. Macron und Borne sind jetzt wohl zu vielem bereit, wenn nur das Reizthema Rentenreform außen vor bleibt. Wenn das funktioniert, ist Macrons Kalkül aufgegangen, dass man nur lange genug hart bleiben muss, um eine machtvolle Mobilisierungswelle wie die der letzten vier Monate über sich ergehen zu lassen ohne »umzufallen«. Seine Amtsvorgänger hatten einfach nicht genug Durchhaltevermögen, scheint Macron überzeugt zu sein, und er erbringe jetzt den Beweis, dass Frankreich doch reformierbar ist.

Aber ganz ist die Rentenreform noch nicht beschlossen, denn der Verfassungsrat hat am 14. April bei seiner Entscheidung zugunsten des Reformgesetzes auch sechs Paragrafen gestrichen. Dazu gehörten beispielsweise Vergünstigungen für Unternehmen, die Senioren einstellen oder die ihre Senioren nicht schon Jahre vor der Rente entlassen. Dass diese Zusagen jetzt erneuert und in einer neuen gesetzlichen Form festgeschrieben werden müssen, ist auch in Regierungskreisen unumstritten. »Diese sechs Artikel waren von der Regierung unter dem Eindruck der Proteste über die Reform nachträglich in den Text eingefügt worden, um den Schock über das Rentenalter 64 etwas abzufedern«, erklärte seinerzeit der CFDT-Vorsitzende Laurent Berger. »Dadurch, dass diese ›Zuckerparagraphen‹ wegfallen, steht das Gesetz nun nackt in seiner ganzen Brutalität da.«

Der Kern der Reform ist die Aufstockung des Renteneinstiegsalters von 62 auf 64 Jahre und dass für eine volle Rente jetzt 43 komplette Beitragsjahre erforderlich sind statt bisher 42. Damit muss ab September dieses Jahres, wenn die Reform zur Anwendung kommt, der Geburtsjahrgang 1961 bereits drei Monate länger arbeiten. Dies setzt sich stufenweise fort, bis ab 2027 die neue Beitragsdauer und ab 2030 das neue Rentenalter für alle gilt. Doch darüber hinaus empfinden viele Franzosen die Reform als extrem ungerecht, weil sie die in der Arbeitswelt und im sozialen Leben ohnehin schon benachteiligten Menschen deutlich härter trifft als die höher qualifizierten Kategorien.

Das empfinden sie als einen Beweis mehr dafür, dass die »abgehobenen« politischen Eliten blind und taub sind für die Probleme der einfachen Franzosen. So müssen bereits heute viele Menschen mit einem wechselhaften und oft prekären Arbeitsleben über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten, um eine Grundrente ohne Abschläge zu erhalten. Die Ungerechtigkeiten konzentrieren sich auf drei Kategorien arbeitender Franzosen: diejenigen ohne eine höhere Ausbildung, Frauen mit Kindern und Senioren. Beispielsweise konnten Franzosen, die nicht studiert, sondern schon vom 20. Lebensjahr an gearbeitet haben, bisher mit 62 Jahren in Rente gehen, da sie dann bereits 42 Jahre lang Beiträge eingezahlt hatten. Künftig jedoch müssen sie bis zum gesetzlichen Rentenalter von 64 Jahren arbeiten, also zwei Jahre länger als bisher, obwohl sie schon mit 63 Jahren die nötigen Beiträge nachweisen können.

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