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Roman »Anfrage«: Existenzialistischer Antifaschismus
»Anfrage«, Christian Geisslers Romandebüt von 1960, wird in der ihm gewidmeten Werkschau wiederveröffentlicht
Christian Geissler veröffentlichte 1960 den antifaschistischen Roman »Anfrage«. Es war sein literarischer Erstling. Der Roman wühlte seinerzeit das Publikum auf, zog die Wut der alten Nazis und der Vertriebenenverbände auf sich, erregte auch die Aufmerksamkeit von linken, antifaschistischen Kreisen, der damals jungen Friedensbewegung und von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki oder Ralph Giordano, wie Detlef Grumbach, der Vorsitzende der Christian-Geissler-Gesellschaft, in einem Nachwort der Neuausgabe erklärt. Es ist die sechste Ausgabe in der Geissler-Werkschau, mit der der Verbrecher Verlag die Bücher dieses 2008 verstorbenen Autors seit 2013 wieder zugänglich macht.
»Anfrage« ist von einem moralischen Linkskatholizismus entscheidend geprägt. Der 1928 geborene Autor gehörte zur »Flakhelfergeneration« und nahm noch 1944/45 am Zweiten Weltkrieg teil. Seine Mutter stammte aus Polen, der Vater war Bauunternehmer in Hamburg, wo Geissler 1949 begann, evangelische Theologie zu studieren. 1953 konvertierte er zum Katholizismus und wechselte zum Studium der Philosophie und Psychologie an die Universität München. 1956 brach er sein Studium endgültig ab und wurde freier Schriftsteller, als Redakteur gab er die kirchenkritischen »Werkhefte katholischer Laien« heraus.
Hauptprotagonist von »Anfrage« ist der 29-jährige Klaus Köhler. Er arbeitet an einem Physikalischen Institut und stößt auf das Schicksal der deportierten und ermordeten jüdischen Familie Valentin, die einst das Haus bewohnten, in dem nun seine Arbeitsstelle ist. Köhler macht sich auf die Suche nach dem Verbleib der Familie, sucht Zeitzeugen, Menschen, die sich an die Familie erinnern können. Ihm begegnen Verdränger, Leugner, Revanchisten und Alt-Nationalsozialisten – in männlicher wie in weiblicher Form.
In der englischen Übersetzung von 1962 heißt das Buch »The Sins of the Fathers«. Köhlers Suche im metaphorischen wie tatsächlichen Sinne nach einem Vater, der nicht mitgemacht hat oder – wie im rahmenden Prolog und Schluss deutlich gemacht wird – Schuld bekennt, dürfte auch Geisslers Suche in jener Zeit gewesen sein. Zu seiner polnischen Mutter hatte er ein gutes Verhältnis, nicht zuletzt wegen ihr sei er von vornherein prädestiniert gewesen, den Rassismus der Nazis abzulehnen, erklärte er später.
»Anfrage« präsentiert das Denken und die Ideologien der postfaschistischen BRD-Gesellschaft. Der Roman ist durchzogen von der widerwärtigen Gedankenwelt, mit der sich der heimatlose, zweifelnde und kritische Hauptprotagonist konfrontieren muss. Bereits in der ersten Ausgabe des Claassen Verlags sind NS-Sentenzen wie der »flinke Windhund« oder antisemitische Parolen in einem Anmerkungsapparat erklärt worden, für die Neuauflage wurde dieser übernommen.
Die DDR zeigte sich von dem Buch durchaus angetan, da es »entscheidende gesellschaftliche Erscheinungen des Bonner Staats« präsentiere, wie es in einem alten Gutachten heißt. Mit einem Vorwort an die Leser in der DDR aus der Feder Geisslers, das nuanciert verändert wurde, erschien der Roman dann auch im Aufbau-Verlag. Geissler war damals äußerst DDR-skeptisch und wollte sich nicht vor den Karren der SED sperren lassen. Einige Bemerkungen in seinem Vorwort für die DDR lesen sich wie eine Kritik an deren Selbstverständnis, ein »anderes Deutschland« darzustellen, auch wenn es nicht minder postfaschistisch war. Sie wurden gestrichen beziehungsweise verändert. Geissler schrieb im Vorwort, es müsse darum gehen, politische Konsequenzen aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu ziehen und der Verlag druckte eine Vorbemerkung: »Unser Weg nach 1945 hat damit begonnen, dass wir die ›Lehren aus unserer Geschichte gezogen haben‹«. Eine solche Selbstgerechtigkeit war nicht im Sinne Geisslers, auch wenn er später stets betonte, dass in der DDR tatsächlich die alten Nazi-Eliten entmachtet worden waren.
Anstoß nahmen die DDR-Literaturverantwortlichen an einer Figur des Romans, dem Kommunisten Steinhoff. Zwar ist er ein Verbündeter Köhlers, erscheint aber als starr und dogmatisch. »Steinhoff ist kein Kommunist«, deklarierte der Aufbau-Verlag, »er ist ein Missverständnis des Autors.« Ironie der Geschichte: Als die DDR 1990 unterging, setzte Christian Geissler hinter seinen Namen ein trotziges (k) in Klammern, da er sich als Kommunist verstand, was er auch deutlich markieren wollte. »Anfrage« ist hingegen sein vor-marxistisches Werk. Der Protagonist Köhler ist hier der von existenzialistischem Ekel erfasste Einzelgänger. Kollektive sollten in Geisslers Werken erst später auftreten: als Arbeiterzirkel und militante Gruppen.
Geissler war kurze Zeit Mitglied der illegalen KPD, trat aber nicht in die 1968 neu konstituierte DKP ein, weil sie ihm als zu wenig radikal erschien. Auch von der Studentenrevolte hielt er sich fern, wurde dann allerdings der bekannteste und am meisten solidarische kulturelle Weggefährte der RAF. Anfang der 70er Jahre gründete er mit anderen in Hamburg das »Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD«, 1988 veröffentlichte er mit »kamalatta« den Roman des bewaffneten Kampfes in Westdeutschland als Abschluss seiner »Trilogie des Widerstands«. Zusammen mit den anderen beiden Bänden »Das Brot mit der Feile« (1973) und »Wird Zeit, dass wir leben« (1976) zieht Geissler über die Kontinuitäten und Beziehungen seiner Romanfiguren eine historische Linie von der KPD 1933 über Hamburger Hafenarbeiter der 60er Jahre bis zur RAF. Noch in den 90er Jahren versuchte er, einen Dialog mit Antiimperialisten und RAF-Gefangenen in Gang zu bringen. Eine Kontinuität bei Geissler ist die Kombination aus Existenzialismus und aktivistischem Antifaschismus.
Bei RAF denkt mittlerweile ein Gutteil des deutschen Publikums an den vermeintlichen Antisemitismus dieser bewaffneten Gruppe. So wird es sich auch nicht nachhaltig irritieren lassen, dass Geissler, der spätere RAF-Sympathisant, zu den frühen Anklägern des deutschen Antisemitismus zu zählen ist, »Anfrage« bezeugt dies. Nach der Lektüre hatte Hans Werner Richter von der Gruppe 47 Geissler um einen Beitrag über »Das jüdische Problem in der deutschen Nachkriegsliteratur« gebeten. »Anfrage« entzieht sich einer wohlfeilen Darstellung dieses Themas, indem Geissler die politischen und privaten Auseinandersetzungen zwischen Köhler und Mr. Weismantel, einem Neffen von Simon Valentin, schildert. Weismantel zeigt sich ambivalent und entzieht sich auch Köhlers Instrumentalisierungsversuchen. Desweiteren kritisiert der Roman die klassischen Täter-Opfer-Verdrehungen im Diskurs um alliierte Bombardierungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. In »Anfrage« von 1960, man muss es immer wieder betonen, steckt noch eine Menge, was heute zu diskutieren ist.
Christian Geissler: »Anfrage«. Verbrecher Verlag, 250 S., geb., 30 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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