Berliner Wohnungsbau im Rückwärtsgang

Die Baustatistik für 2022 vernebelt die düstere Realität

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 7 Min.

»17.310 fertiggestellte Wohnungen in Berlin bedeutet das zweitbeste Ergebnis seit 1998. Angesichts der vielen Krisen, die das Bauen im letzten Jahr erschwerten, ist das ein großer Erfolg.« Es sind fast schon triumphale Worte, die Berlins Bausenator Christian Gaebler (SPD) angesichts der Veröffentlichung der Wohnungsbaustatistik 2022 des zuständigen Landesamtes für Statistik Berlin-Brandenburg wählt. Kurz vor der Wahlwiederholung hatten in einer pompösen Pressekonferenz auf dem Fernsehturm die damalige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und der damalige Bausenator Andreas Geisel (beide SPD) für das abgelaufene Jahr noch die Prognose verbreitet, dass rund 16.500 neue Wohnungen fertig geworden sind.

Allein, beide Zahlen dürften an der Realität deutlich vorbeigehen. »Wohl nur rund 14.000 statt 17.310« Wohnungen sind 2022 in Berlin fertig geworden, schreibt Reiner Braun vom Empirica-Institut am Himmelfahrtstag bei Twitter. Stattdessen seien 2021 »also eher 19.270 statt 15.870 fertiggestellt« worden. Letztere war die vom Statistikamt für 2021 offiziell gemeldete Zahl der Wohnungsfertigstellungen in Berlin.

Die Annahmen von Reiner Braun scheinen plausibel. Der Chef der Empirica AG, die Forschung und Beratung zum Immobilienmarkt anbietet, bezieht sich nämlich auf einen Satz in der Pressemitteilung des Statistikamtes, in dem es heißt: »Entstanden sind diese Wohnungen durch die gemeldete Fertigstellung von insgesamt 2595 Bauvorhaben, von denen jedoch 509 Bauvorhaben bereits vor dem aktuellen Berichtszeitraum fertiggestellt waren.« Im Klartext: Fast ein Fünftel der Projekte ist wohl bereits 2021 fertiggestellt worden, dem Amt gemeldet wurden sie aber erst 2022. »Unterstellt man eine mittlere Gebäudegröße, sind dies rund 3400 Wohneinheiten«, schreibt Braun.

Die Bauverwaltung reagiert auf Nachfrage von »nd« eher reserviert. »Für uns ist die 17.310 die offizielle Zahl. Das Entscheidende ist, dass die Wohnungen in diesem Umfang dem Mietmarkt zur Verfügung stehen«, antwortet Verwaltungssprecher Martin Pallgen. Und gibt den Rat, sich an das Statistikamt zu wenden, um zu erfahren, wie die Zahlen zustande gekommen sind.

»Nachmeldungen entstehen, wenn den Statistischen Landesämtern die für eine Statistik notwendigen Zahlen zum Abschluss eines Berichtszeitraums nicht rechtzeitig geliefert werden und somit erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegen«, teilt das Landesamt auf nd-Anfrage mit. Bei den Baufertigstellungen sei dies unter anderem auf das Meldeverhalten von Bauherren zurückzuführen. »Hinzu kommt, dass die Bauaufsichtsbehörden derzeit noch in Papierform melden.« Genauere Angaben, um wie viele Wohnungen es bei der Jahresstatistik 2022 geht, könne die Behörde im zu knappen Zeitfenster nicht liefern.

Aus mehreren Gründen noch verwegener ist Christian Gaeblers Aussage, dass die Zahl des Statistikamtes bedeute, »dass wir für bis zu 50.000 Menschen ein bezahlbares neues Zuhause geschaffen haben«. Das entspräche durchschnittlich 2,88 Personen pro Haushalt. Der Berliner Makler Guthmann Estate vermeldet in seinem aktuellen Marktreport auf Basis der 23 Altbezirke reale Haushaltsgrößen von bis zu etwas über zwei Personen, womit rechnerisch mit der offiziellen Neubauzahl bis zu 36.000 Menschen versorgt wären. Wie viele Personen tatsächlich in den neuen Wohnungen leben, weiß niemand.

Auf solch statistischen Überlegungen will sich Bauverwaltungssprecher Martin Pallgen gar nicht erst einlassen. »Hier haben wir im Übrigen von bis zu 50.000 Menschen gesprochen«, antwortet er schriftlich, die Worte »bis zu« unterstrichen. Na dann.

Ulrike Hamann, Geschäftsführerin des Berliner Mietervereins, hat dazu auch Fragen: »Wie kommt der Senator darauf, dass durch 17.000 neue Wohnungen 50.000 Menschen bezahlbaren Wohnraum gefunden haben? Wissen wir, zu welchen Preisen diese Wohnungen vermietet werden?« Denn die Zahl beinhalte »auch Luxus-Neubau«. Für Neubau-Eigentumswohnungen liegt laut Guthmann Estate aktuell der Quadratmeterpreis im Mittel bei 8530 Euro, Kaltmieten im Neubau bei 22,85 Euro.

»Der Vorgang zeigt vor allem, dass die SPD mit ihrer Erzählung Geschichte schreiben will«, sagt Niklas Schenker zu »nd«. Er ist Sprecher für Mieten und Wohnen der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Die viel wichtigere Frage ist doch, welche Wohnungen gebaut werden. Also, wie es beim kommunalen Neubau und den Sozialwohnungen aussieht«, ergänzt er.

»Man hat den Eindruck, die verkünden die großen Zahlen, um Druck auf die Bezirke zu machen für ihre Basta-Neubaupolitik und gleichzeitig Beruhigungspillen für die Bevölkerung zu verteilen. Währenddessen springen die Bestandsmieter über die Klippe«, sagt Katrin Schmidberger, die Expertin für Wohnen und Mieten der Grünen im Abgeordnetenhaus, zu »nd«.

Wie bisher jedes Jahr gerissen wird auch die Zielzahl beim kommunalen Neubau. Dem Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) zufolge planen die Berliner Landeseigenen – so der Stand zum 31. März – für 2023 die Fertigstellung von 5677 Wohneinheiten. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD sieht jährlich 6500 neue kommunale Wohnungen vor, Rot-Grün-Rot hatte sich jährlich 7000 vorgenommen.

»Fachkräfte- und Materialengpässe, Kostenexplosion, steigende Zinsen und schleppende Bauplanungsverfahren: Die Rahmenbedingungen für den Bau bezahlbarer Mietwohnungen werden immer härter, auch für die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften«, fasst BBU-Chefin Maren Kern die Probleme knapp zusammen. Sie fordert, »dass der neue Senat alle Hebel in Bewegung setzt, um Bauen zu beschleunigen, wie es im Koalitionsvertrag auch klar verabredet worden ist. Dazu gehört die umfassende Verwaltungsreform ebenso wie ein ›Schneller-Bauen-Gesetz‹ oder die zügige Beplanung und Erschließung der großen Berliner Entwicklungsgebiete.«

Mit Blick auf die seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine galoppierenden Kosten sind laut Maren Kern vor allem zwei Stellschrauben wichtig: »Die erste: die Stärkung der Landes- und Bundesförderung für Neubau und Modernisierung. Die zweite: die Kräftigung der Eigenkapitalbasis der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften durch Eigenkapitalzuführungen des Landes.«

»Wenn jetzt sogar der BBU Eigenkapitalzuschüsse für die Landeseigenen fordert, lagen wir mit unseren Forderungen wohl nicht ganz falsch«, kommentiert das Linke-Wohnungsexperte Niklas Schenker süffisant. Seine Partei hatte im Januar ein Konzept vorgestellt, wonach vom Land den Wohnungsbaugesellschaften kreditfinanziert jährlich eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden soll, damit sie 7500 Wohnungen errichten können. »Diese Milliarde jährlich und nicht das vom Bausenator angekündigte Auslaufen des Mietenstopps kann dafür sorgen, dass der landeseigene Neubau überhaupt stattfindet. Der Stopp hat zehn Millionen Euro im Jahr gekostet, davon baue ich gerade mal 40 Wohnungen«, sagt Schenker. »Es führt auch kein Weg daran vorbei, um die Landeseigenen in die Lage zu versetzen, einzuspringen, wenn Private nicht bauen oder Bestände verkaufen.«

In der »Flächenaktivierung und Konzentration auf in absehbarer Zeit realisierbare Neue Stadtquartiere« sieht die Bauverwaltung einen großen Hebel, um die Zielzahlen beim Wohnungsbau zu erreichen. Im Interview mit der »Berliner Morgenpost« kündigte Bausenator Gaebler an, dass der Bau der ersten 500 von insgesamt 5000 Wohnungen auf der Elisabethaue in Pankow bereits Anfang 2026 beginnen soll.

Für Grünen-Mietenexpertin Katrin Schmidberger ist das der falsche Ansatz. »Wir müssen weg vom Fokus auf den klassischen Neubau auf der grünen Wiese. Stattdessen muss die Umnutzung und Ergänzung im Bestand forciert werden«, sagt sie. Überhaupt nicht weitergekommen sei man bisher, bis auf Einzelprojekte, beispielsweise beim Thema Geschosswohnungsbau über Supermarktflächen. Auch die Förderung von Dachgeschossausbauten und Aufstockungen müsse verbessert werden. Förderkonzepte für die Einrichtung von Einliegerwohnungen in Einfamilienhäusern mit separaten Zugängen könnten zudem einen spürbaren Beitrag leisten. »Oft wohnen dort nur eine oder zwei Personen«, sagt Schmidberger.

»Es geht nicht um die von Schwarz-Rot propagierten Großvorhaben. Man muss kleinteilig, vor Ort und quartiersbezogen bauen und vor allem das Richtige bauen«, sagt die Grünen-Politikerin.

»Das wichtigste Instrument wäre eine attraktive Genossenschaftsförderung mit Konzeptverfahren und Erbbaurecht zu wirklich guten Konditionen. Da ist auch unter Rot-Grün-Rot leider viel zu wenig passiert«, sagt die Grünen-Abgeordnete. In den vergangenen Jahren haben Genossenschaften angesichts der Baupreis- und Zinsentwicklung mehrere Grundstücke zurückgegeben, weil sie sich außerstande sahen, die Bauvorhaben zu vertretbaren Konditionen zu realisieren.

Wie Niklas Schenker fordert auch Katrin Schmidberger, die Landes-Wohnungsunternehmen mit Eigenkapitalzuschüssen fit zu machen, auch um in der beginnenden Verkaufswelle privater Wohnungsbestände nicht nur bei Konzernen wie Vonovia oder Heimstaden zugreifen zu können. »Dabei geht es auch um bereits in Eigentumswohnungen aufgeteilte Häuser, bei denen die Kündigungs-Schutzfristen auslaufen«, sagt sie.

Immobilienexperte Reiner Braun verdeutlicht, dass der tatsächliche Einbruch beim Wohnungsbau 2022 »erst der Anfang einer mehrjährigen Talfahrt« ist. »Denn seit letztem Jahr werden genehmigte Wohnungen eher storniert als beauftragt. Wegen der langen Baudauer macht sich dies aber erst in den Jahren bis 2025 bemerkbar.« Er verdeutlicht: »Gegenmaßnahmen sind daher längst überfällig, sonst droht großes soziales Unheil. Oder Schlimmeres.«

Der nächste Einschlag für die Mieterinnen und Mieter in Berlin dürfte der neue Mietspiegel sein, der noch im Mai veröffentlicht werden soll. Im März wurde in München der Mietspiegel 2023 veröffentlicht – die dort veröffentlichten Mieten sind seit 2021 um durchschnittlich 21 Prozent gestiegen.

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