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Cannes: Putzfrau auf dem roten Teppich

Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes sind am Wochenende zu Ende gegangen. Die französische Regisseurin Justine Triet gewann als dritte Frau überhaupt die Goldene Palme

Es gibt eine Szene im Film »A Brighter Tomorrow« des italienischen Regisseurs Nanni Moretti, in dem er selbst die Rolle eines Filmemachers spielt, der in Rom an einem Drehset plötzlich vor einer moralischen Frage über Gewaltszenen im Film steht. Da ruft er Martin Scorsese (!) an, um diese Frage mit ihm zu besprechen. Die ganze Crew schaut ihm dabei erstaunt zu, wie er einfach so Scorsese anruft. Doch Scorsese ist gerade nicht da, stattdessen springt der Anrufbeantworter an.

Das ganze Cannes-Filmfestival fühlt sich so an: Harrison Ford ist auf dem Fest anwesend, aber du kommst einen Tag später an. Ken Loach ist bei der Premiere im Saal, doch du bist in dem anderen Kinosaal bei der Pressevorführung. Robert De Niro ist gerade in der Pressekonferenz, aber es gibt unzählige Menschen vor dem Konferenzraum, die schon seit zwei Stunden in der Schlange stehen. Alles scheint so nah und trotzdem so unerreichbar zugleich.

Preisträger*innen

Goldene Palme: »Anatomy of a Fall« von Justine Triet
Großer Preis der Jury: »The Zone of Interest« von Jonathan Glazer
Preis der Jury: »Fallen Leaves« von Aki Kaurismäki
Beste Schauspielerin: Merve Dizdar in »About Dry Grasses« von Nuri Bilge Ceylan
Bester Schauspieler: Koji Yakusho in »Perfect Days« von Wim Wenders
Beste Regie: Tran Anh Hung für »La Passion de Dodin Bouffant«
Bestes Drehbuch: Yuji Sakamoto für »Monster« von Hirokazu Koreeda

An ambivalenten Momenten ist Cannes reich – an Menschen auch, die sich für die Abendveranstaltungen extrem schön machen, um dann im Kinosaal neben dir mit offenem Mund zu schnarchen. Doch neben den müden Gesichtern in Gala gibt es auch jede Menge guter Filme. Vor allem im diesjährigen Wettbewerb wurden zahlreiche starke Titel präsentiert. Einer davon war die Dokumentation »Four Daughters« der Regisseurin Kaouther Ben Hania. Die Tunesierin, die zum ersten Mal zum Wettbewerb von Cannes eingeladen wurde, hat schon 2022 mit ihrem berührenden Spielfilm »Der Mann, der seine Haut verkaufte« über einen syrischen Flüchtling, der sich ein Schengen-Visum auf seinen Rücken tätowieren lässt und zu einem lebendigen Kunstwerk wird, auf dem Venedig-Filmfestival für Aufsehen gesorgt.

Ihr neuer Dokumentarfilm handelt von der Tunesierin Olfa Hamrouni und ihren vier Töchtern Ghofrane, Rahma, Eya und Tayssir. 2016 hatte die Mutter bekanntgegeben, dass die beiden älteren Töchter Ghofrane und Rahma sich in Libyen dem IS angeschlossen hatten.

Mit zwei Schauspieler*innen, die Ghofrane und Rahma verkörpern, und der restlichen Familie (Mutter Olfa und den jüngeren Töchtern Eya und Tayssir) rekonstruiert die Regisseurin die Geschichte. Auch eine bekannte tunesische Darstellerin, Hend Sabri, ist am Set dabei, um in manchen Szenen die Rolle von Olfa zu übernehmen, wenn es für die Mutter emotional sehr schwierig wird.

Olfa arbeitet als Putzfrau, ist selbst Opfer von Misogynie und Zwangsheirat, gleichzeitig aber gewalttätig. Sie erzählt, wie sie den aufdringlichen Ehemann in ihrer Hochzeitsnacht mit dem Fuß ins Gesicht getreten, mit einem Tuch sein Blut abgewischt und es den Familienmitgliedern in die Hand gedrückt hatte, die hinter der Schlafzimmertür auf das blutige Tuch als Zeichen der Entjungferung warteten. Handgreiflich wurde Olfa später auch mit den Töchtern.

Mal künstlerisch, mal drastisch werden die Situationen dargestellt oder die Erinnerungen wiederhergestellt, dabei kommen die Töchter mit der Mutter ständig in den Dialog, fordern sie teilweise heraus, sodass das Unausgesprochene reflektiert wird. Neben den familiären Aspekten werden auch die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Ebenen der Geschichte beleuchtet, damit jede*r für sich beantworten kann, in was für einem Umfeld zwei Frauen begonnen haben, sich im jugendlichen Alter zu radikalisieren. Erstaunlich dabei ist, dass bei all den erschütternden Erzählungen ausgiebig gelacht wird.  

Ghofrane und Rahma sind momentan im Gefängnis. Olfa war mit ihren anderen Töchtern Eya und Tayssir bei der Uraufführung des Films in Cannes. Wenn es etwas gibt, das dieses Festival – abgesehen von seinen Filmen – so interessant macht, dann solche Gegensätze: Während der US-Regisseur Wes Anderson die Hälfte Hollywoods mit einem Bus zur Premiere seines Werks »Asteroid City« fahren lässt, steht an einem anderen Tag eine tunesische Putzfrau auf dem roten Teppich.

Auch Putzmänner sind in die Geschichte des Festivals eingegangen. Für die Rolle des Tokioter Toilettenputzers Hirayama im Spielfilm »Perfect Days« des Regisseurs Wim Wenders wurde der japanische Schauspieler Koji Yakusho als bester Darsteller ausgezeichnet. Sehr verdient – allein wegen der schönen, finalen Plansequenz im Film, in der er ein flüchtiges, unsicheres Lächeln auf den Lippen, aber minutenlang Tränen in den Augen hat, die aber nicht kullern.

Für Tränen sorgte nun der britische Regisseur Ken Loach mit seinem Beitrag »The Old Oak«, der als Abschlussfilm des Wettbewerbs gezeigt wurde. Im Film betreibt TJ Ballantyne (Dave Turner) den letzten Pub, eben »The Old Oak«, in einer nordenglischen Kleinstadt, in der 2016 einige Geflüchtete aus Syrien untergebracht werden, darunter die junge Yara (Ebla Mari), die als einzige Person Englisch spricht und daher schneller mit manchen Einheimischen in Kontakt kommt. Während TJ und einige Einwohner*innen versuchen, ein paar Habseligkeiten für die Flüchtlingsfamilien zu besorgen, reagieren die anderen mit Skepsis oder Fremdenhass. Viele davon leben selbst in prekären Verhältnissen. In dem Pub versammeln sie sich und äußern sich besorgt, ihre Sätze beginnen mit: »Ich bin kein Rassist, aber …«

Herzzerreißend wird es, wenn kleine Kinder aus der Gegend, die ebenfalls arm sind, mit Neid beobachten, wie ein Flüchtlingskind ein gebrauchtes Fahrrad geschenkt bekommt, und dann TJ fragen, warum sie keines bekommen. Da weiß TJ nichts mehr mit sich anzufangen. So stark solche Szenen im Film auch sind, so plakativ-belehrend wirken manche Stellen, vor allem die Dialoge – oder eher Monologe – der Figur Yara, die diese zutiefst menschliche und sympathische Geschichte etwas überschatten.

Die Goldene Palme gewann die französische Regisseurin Justine Triet, als dritte Frau überhaupt in der Geschichte des Festivals, für ihren Gerichtsfilm »Anatomy of a Fall« über eine Autorin, die des Mordes an ihrem Mann angeklagt wird. Und den Großen Preis der Jury erhielt der britische Filmemacher Jonathan Glazer für das Historiendrama »The Zone of Interest« über das Familienleben des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seiner Frau Hedwig. In beiden Filmen spielt Sandra Hüller die Hauptrolle. Wurde die deutsche Schauspielerin nicht ausgezeichnet, weil eben ihre Filme die zwei wichtigsten Preise des Festivals bekommen haben? Jedenfalls strahlte sie bei der Preisverleihung, wissend, dass sie Großartiges geleistet hat.

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