Prozess gegen Lina E.: Urteil mit Sprengkraft

Im Prozess gegen die angebliche Gruppe um Lina E. fällt nach fast 100 Verhandlungstagen das Urteil

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Straßensperrungen, akribische Personenkontrollen, in der Luft kreisende Polizeihubschrauber: Der Aufwand zur Sicherung des Gebäudes, in dem das Oberlandesgericht Dresden seit September 2021 gegen Lina E. und drei Mitangeklagte verhandelt, war an jedem der knapp 100 Verhandlungstage enorm. An diesem Mittwoch dürfte das Areal zwischen Gefängnis und Wertstoffhof indes einer Festung gleichen. Der Senat um den Vorsitzenden Richter Hans Schlüter-Staats fällt das Urteil. Viele Angehörige der linken Szene, die Lina E. als Heldin verehrt, wollen zum Gericht kommen. Und wenn nicht ein Wunder geschieht, wird der Richterspruch bei ihnen für wütende Reaktionen sorgen.

Acht Jahre Gefängnis forderte die Anklage für die 28-Jährige, die seit November 2020 in Untersuchungshaft sitzt. Sie soll Rädelsführerin einer kriminellen Vereinigung sein, deren Mitglieder brutale Überfälle auf Rechtsextreme verübt haben sollen. Konkret genannt werden unter anderem zwei Angriffe auf die Eisenacher Nazikneipe »Bull’s Eye« und deren Inhaber Leon R. Außerdem geht es um Attacken auf einen NPD-Politiker in Leipzig und einen Nazi aus Kühren, einen Überfall am Bahnhof Wurzen auf Rückkehrer von einer rechten Demo aus Dresden und auf einen Kanalarbeiter, der eine Mütze eines rechten Szenelabels trug. Den Angeklagten werden gefährliche Körperverletzung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und räuberischer Diebstahl vorgeworfen. Stark strafverschärfend wirkt sich der Vorwurf aus, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Für die drei Mitangeklagten von Lina E. stehen Strafforderungen zwischen 33 und 45 Monaten im Raum.

Die Bundesanwaltschaft sieht in den Taten einen Angriff auf Grundpfeiler des Rechtsstaats. Angetrieben von einer »militanten antifaschistischen Ideologie«, hätten die Täter das Gewaltmonopol des Staates ausgehebelt und den »friedlichen politischen Meinungskampf« als Grundelement freiheitlicher Demokratie infrage gestellt, sagte Bundesanwältin Franziska Geilhorn in ihrem Plädoyer. Die Verteidigung wiederum wirft der Anklage vor, einen »politischen Prozess« geführt zu haben und ein »Exempel« im Kampf gegen die linke Szene statuieren zu wollen. Dabei habe sie das gesellschaftliche Umfeld und das Versagen des Staates beim Kampf gegen Rechtsextremismus komplett aus den Augen gelassen, der bei manchen in der linken Szene zur Erwägung führte, Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Ein Beispiel ist das jahrelange Treiben von Leon R. und seinen Kameraden, die mit der Kampfsporttruppe »Knockout 51« in Eisenach ein »Nazikiez« errichten wollten und denen bis zu den Überfällen niemand Einhalt gebot. R. sagte als Zeuge im Prozess gegen Lina E. aus; erst danach wurde er festgenommen, weil er seinerseits einer terroristischen Vereinigung angehört haben soll. Die drastischen Strafforderungen gegen Lina & Co stünden in eklatantem Widerspruch zur verbreiteten Nachsicht gegenüber Rechtsextremen, kritisierten Verteidiger. Eine von ihnen fragte sarkastisch: »Muss man ein Nazi sein, um Bewährung zu bekommen?«

Es ist nicht sicher, dass das Gericht der Anklage folgt. Allerdings machen sich die Verteidiger keine Illusionen. Sie werfen der Kammer vor, in ihrer Verhandlungsführung einen »Schulterschluss« mit der Bundesanwaltschaft praktiziert zu haben; von Beweislastumkehr war die Rede. Zwar musste die Anklägerin einräumen, dass sie keine »Smoking Gun« präsentieren kann und es mit Blick auf die vermeintliche kriminelle Vereinigung weder genaue Strukturen noch ein Gründungsdatum gibt. Auch liegt bei einem Szeneaussteiger, der entgegen den üblichen Gepflogenheiten in der linken Szene gegen seine früheren Mitstreiter auspackte und diese als Kronzeuge im Prozess schwer belastete, der Verdacht nahe, eigene Interessen zu verfolgen und zu taktieren. Dennoch wäre es eine faustdicke Überraschung, wenn das Gericht nicht langjährige Haftstrafen verhängen würde. Schlüter-Staats hat bereits angekündigt, die Urteilsbegründung werde ausführlicher als üblich ausfallen.

Die linke Szene mobilisiert zu Kundgebungen für den Tag des Urteils, vor allem aber für den kommenden Samstag, der seit Monaten zum »Tag X« stilisiert wird und an dem es eine große Demonstration in Leipzig geben soll. Weil im Internet Drohungen kursieren, für jedes Jahr Haftstrafe einen Sachschaden von einer Million Euro anzurichten, richten sich die Sicherheitsbehörden auf einen Großeinsatz ein und zeichnen ein Schreckensszenario von Eskalation und Randale. Man arbeite offenbar an einer »selbsterfüllenden Prophezeiung«, heißt es in einem offenen Brief des Leipziger Abgeordnetenbüros Linxxnet, in dem die linken Demonstranten freilich auch gebeten werden, Leipzig und das linke Szeneviertel Connewitz nicht zu »zerkloppen«.

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