Stimmiger Alltag

WOLFRAM ADOLPHI: »Chinatraum«

  • Erhard und Helga Scherner
  • Lesedauer: 2 Min.

Wenn ein Gelehrter »ein würdig Pergamen« entrollt, so steigt, wie man weiß, »der ganze Himmel zu dir nieder«. In Wolfram Adolphis Roman ist Ines Rothermund die Glückliche, wissenschaftliche Aspirantin aus der DDR. Im November 1987 hat sie, von der Berliner Humboldt-Universität entsandt, ins Zweite Historische Archiv Chinas in Nanking Zutritt erhalten und wird fündig. Zu ihrem Forschungsgegenstand, die deutsch-chinesischen Beziehungen von 1937 bis 45, sind neue Dokumente aufgetaucht, so zu Paul Kleinert, dem vormaligen Wirtschaftsberater von Marschall Tschiang Kai-schek.

Der aufmerksame Leser, der die China-Belletristik verfolgt, weiß über die Mission dieses Kleinert Bescheid, weiß jedenfalls mehr als zu diesem Augenblick Ines Rothermund: Denn Adolphis Buch »Chinafieber« (NORA-Verlag, 2004), der ziemlich spannende Roman über einen scheiternden Emissär und dessen chinesische Frau Zhang Li, bietet die Vorgeschichte. In beiden Büchern eine Stärke des Autors: Detailgenauigkeit, stimmiger Alltag. Ines erinnert sich einer bedrückenden Szene von 1978 im Speisesaal des Sprachinstituts der Peking-Universität: Eine Chinesin, die sich ihr offenbaren will, wird weggeführt, ehe sie noch verstanden hat, worum es ihr geht. Wer nur war die Alte? Zwischen diesen Polen entfaltet sich, man ahnt es, ein sehr deutsches Buch – »tatenarm und gedankenvoll«.

Diese Dispute aber haben es in sich. Die Zeiten sind in Bewegung geraten – China hat die katastrophale Kulturevolution hinter sich und ist mit der Revolte seiner jungen Generation konfrontiert. In Europa implodieren sozialistische Staatsgebilde, das Sowjetimperium zerbricht. Die kapitalistische Welt schickt sich an, in das entstehende Vakuum vorzustoßen. Im Kreis angehender Chinawissenschaftler aus anderen Ländern ist Ines Rothermund auf sich gestellt, sie überprüft ihre Auffassungen, erprobt sich im Streit, erwirbt Achtung. Ein wissenschaftlicher Erfolg verwirrt den Lebensweg: Sie, die in der DDR passabel situierte verheiratete Frau, gibt sich unverzüglich einem (vom Autor recht blass gezeichneten) chinesischen Fachkollegen hin. Dortzulande ein höchst merkwürdiger Fall, der erstaunliche Konsequenzen zeitigt. Die Wende zum Liebesroman?

Heimgekehrt muss Ines Rothermund eine internationale Sinologenkonferenz organisieren. Hier, in Weimar, erfährt die DDR-Chinawissenschaft viel Anerkennung. Werden neue Beziehungen zu westdeutschen Kollegen halten, als das Staatsgebilde DDR implodiert? Plötzlich neue Vorgaben, neue Vorgesetzte, Entlassungen. Freundschaft, Sympathie sind auf die Probe gestellt.

Mit Adolphis Buch werden, vom spezifischen Gesichtswinkel junger Chinawissenschaftler her, Träume mit der Wirklichkeit konfrontiert. Resümee einer Epoche ohne Häme – das ist heutzutage nicht wenig.

Wolfram Adolphi: Chinatraum. Roman. NORA Verlag. 304 S., brosch., 19,90 EUR.

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