Sozialistische Storys

Malcolm Harris’ Bücher sind in den USA gefragt. Er überrascht mit seinem Blick auf die amerikanische Geschichte

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 8 Min.

Wenn in den USA Menschen zu sozialistischen Überzeugungen gelangen, dann geschieht dies manchmal auf ungewöhnlichen Wegen: Wer erkrankt und kostspielige Therapien benötigt, sehnt sich vielleicht nach einem anderen Weg als dem bürokratischen Kampf mit Versicherungen. Amazon-Arbeiter begeistern sich für die Idee der Mitbestimmung an ihrem autoritär geführten Arbeitsplatz. Bewohner der verfallenden Armenviertel wollen ihre Benachteiligung nicht länger hinnehmen, sondern fordern Gleichberechtigung ein.

Die Wirklichkeit produziert nicht nur Wutbürger, die oft die Schlagzeilen bestimmen, sondern auch Sozialisten. Überall im Land gibt es Basisbewegungen, die sich gegen den Trumpismus und das neoliberale Parteiestablishment der Demokraten wehren. Auch der 1988 geborene Autor Malcolm Harris fühlt sich mit der Linken verbunden. Prägend für ihn sei seine Ausbildung an der Universität von Maryland an der US-amerikanischen Ostküste, erzählt er am Telefon. Dort studierte er Politikwissenschaften. Zu der Zeit erreichte die Occupy-Wall-Street-Bewegung ihren Höhepunkt, die eine stärkere Kontrolle des Banken- und Finanzsektors durch die Politik forderte und eine Verringerung der sozialen Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Harris selbst beteiligte sich an den Protesten, wurde während einer Aktion auf der Brooklyn Bridge in New York im Herbst 2011 verhaftet und zu einer Ordnungsstrafe verurteilt. Diese Erfahrung hat Harris geprägt. Auch wenn ihn die fehlenden Erfolge der Bewegung enttäuscht haben, so hat sie ihn doch bewegt und radikalisiert.

Inzwischen hat er zwei Bücher geschrieben, die Bestseller sind: »Kids These Days: The Making of the Millenials« (2017), das über den psychischen Druck der Jugend handelt, von denen beruflicher Erfolg unter widrigen makroökonomischen Bedingungen verlangt wird; und dieses Jahr eine Geschichte seiner kalifornischen Heimatstadt »Palo Alto: A History of California, Capitalism and the World«. Harris greift in diesen Büchern auf Arbeiten von linken Wissenschaftlern zurück, wenn es etwa um die Geschichte der Stanford-Universität geht, die Geschichte der Kaffeekultur in den neoliberalen USA oder die Entwicklung des Gesundheitssektors als wichtigem Ort der Auseinandersetzung zwischen dem Kapital und einer linken Gegenbewegung. Wer die Bücher von Harris liest, wird nicht belehrt, erhält aber eine umfassende sozialistische Perspektive auf die USA. »Making Communism Cool Again«, könnte das Motto seines sowohl empirisch ausführlichen wie witzigen Stils sein.

Seine Kindheit passt eigentlich nicht so recht zu seiner späteren Sozialisation als Student. Aufgewachsen ist er nämlich in einer Bilderbuch-Doppelhaushälfte bei Palo Alto, in der Bucht von San Francisco und erlebte eine Vorstadt-Kindheit wie aus dem Fernsehen und dem amerikanischen Traum. Er hat zwei jüngere Geschwister, der Vater Anwalt für Urheberrecht im Silicon Valley, die Mutter, die mit der Erziehung von Kleinkindern zu tun hatte. Eine prägende Kindheitserinnerung von Harris war ein Klassengespräch mit einer Vertretungslehrerin in der Grundschule: Sie erzählte den wohlbehüteten Kindern, dass ihr idyllisches Leben keineswegs der normale Zustand sei, dass sie vielmehr in einer »Blase« lebten, von Härten der Außenwelt abgeschirmt. Diese Botschaft wurde dann von den Kindern zu Hause eifrig wiedererzählt. Daraufhin wurde die Schule von vielen Eltern kritisiert, die Lehrerin wurde ersetzt und setzte nie wieder einen Schritt in das Schulgebäude.

»Als ich in Kalifornien lebte, habe ich immer gedacht, dass es ein Ort ohne Geschichte wäre«, erzählt Harris. Seit seinem Studium ist er nun schon an der Ostküste: »Ich musste Kalifornien verlassen, um darüber schreiben zu können.« Anlass für seine Recherchen über die Geschichte seiner Heimatstadt war ein tragisches Ereignis: Es gab eine Reihe von Selbstmorden in seiner ehemaligen High School, und zeitnah hatten sich Mitarbeiter des Elektronikerstellers Foxconn in China auf dem Fabrikgelände ihr Leben genommen, weil die Arbeitsbedingungen dort für sie unerträglich waren. Harris wollte wissen, wie sich diese zwei Ereignisse zueinander verhielten.

Die Selbstmorde in Palo Alto fanden im hyper-ehrgeizigen Klima einer elitären Gemeinde in den Nullerjahren statt. Ähnliche Selbstmordwellen ereigneten sich im Tech-Zentrum von Seattle. Offenbar hängen die Suizide oft mit dem Druck zusammen, bereits in jungen Jahren enorm erfolgreich zu sein, was für manche dann zu einer Überforderung führt. Harris erzählt, dass sich die unglücklichen Schüler in seiner Stadt auf dieselben Eisenbahn-Schienen gelegt haben, die im 19. Jahrhundert den Fortschritt brachten und die Westküste mit den Metropolen des Ostens verbanden. Eine solche Verknüpfung ist typisch für Harris: Es geht ihm weniger um das streng akademische Herausarbeiten von Ursache und Wirkung, als um eine Poetik und Symbole, mit denen er es immer wieder schafft, seine Leser mitzunehmen. Auch wenn die Thesen bisweilen steil sind.

Harris identifiziert sich mit seiner Generation, die oft Millennials genannt wird, weil sie um die Jahrtausendwende mündig wurde. Sie sind auch die Zielgruppe für seine Bücher. In seinem Buch »Kids These Days« stellt er die These auf, dass diese Generation entweder die ersten amerikanischen Faschisten werden oder die ersten Revolutionäre, weil sie seit ihrer Kindheit an einen erbitterten Kampf um Erfolg und Überleben erlebt. Das sei prägend für ihr Leben. Harris kritisiert im Stile eines Betriebsrats, dass seine Generation seit frühster Kindheit unter Druck gestellt wurde, das eigene Humankapital zu entwickeln. Zugleich falle es ihnen schwer, davon zu profitieren. Viele leisteten nämlich geistige Arbeit, die nur unzureichend vergütet werde.

Harris schreibt für seine Altersgenossen, und seine Themenauswahl ist zuweilen launisch. Wenn man ihn fragt, wieso er in seinem Buch über Kalifornien den Sozialisten Jack London komplett außen vor lässt, sagt Harris, dass ihn Jack London als alter weißer Mann nicht wirklich interessiere. Viel spannender sind für Harris dagegen Zeitgenossen Londons, wie der indische Revolutionär Lala Har Dayal, der im kalifornischen Exil vor dem Ersten Weltkrieg als Stanford-Professor und später als Gewerkschafter und Sekretär der Industriegewerkschaft IWW in Kalifornien wirkte. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch den japanischen Revolutionär Kotoku Shusui, der eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Anarchismus in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte und 1911 hingerichtet wurde. Harris erinnert in seinen Büchern an in Vergessenheit geratene Geschichten. »Es geht heute nicht mehr hauptsächlich um die Welt der nördlichen kapitalistischen Staaten,« erklärt er. Die Geschichte der USA hat viele Facetten und Ebenen. Harris hat die Geschichte von Dayal ausgegraben, als wäre er ein Archäologe.

Doch über die asiatische Bevölkerung in der heutigen USA will Harris nicht »spekulieren«. Er will sich nicht anmaßen, ihre Perspektiven einzunehmen. Stattdessen thematisiert er die weiße Dominanz an der Universität in Stanford, nahe seiner Heimatstadt Palo Alto, die zugleich eine anti-britische und antiimperialistische Tradition pflegt. Auch wenn dies sehr unterschiedliche Ausrichtungen sind, so hat dies letztlich dazu geführt, Wissenschaftler wie Lala Har Dayal anzustellen, was Harris wiederum in seinen Arbeiten aufgreift. Aber die vielschichtige Geschichte der Asiatischstämmigen in den USA behandelt er nicht umfassend. Er beschränkt sich auf Anekdoten.

Harris erwähnt gerne, dass er schon im Alter von zwölf Jahren gegen den Afghanistan-Krieg protestiert hat, und macht sich jetzt anlässlich des Ukraine-Kriegs über das massive Wettrüsten Sorgen. Er hegt keinerlei Sympathien für Rechte wie den Moderator Tucker Carlson, wie es etwa der Journalist Glenn Greenwald tut. Doch wo Greenwald, der 2013 die Geheimdokumente von Edward Snowden für den britischen »Guardian« aufbereitete, keinem politischen Konflikt aus dem Weg geht, so wähnt sich auch Malcolm Harris als Dissident, er wählt seine Worte aber bedächtig aus. Im Gespräch wirkt er wie ein amerikanischer Intellektueller im herkömmlichen Stil: hochintelligent, empirisch, unternehmerisch, fleißig, distanziert und stolz. Er konzentriert sich auf sein eigenes Wirken und seine Themen.

Harris mag zwar ein rhetorisch bewanderter Geschichtenerzähler sein. Aber er blendet ebenso viel Zeitgeschichtliches aus. So hat er etwa zum Zerfall der alten US-Industriestädte nur wenig zu sagen. Die steigende Gewalt in der New Yorker Subway und die viele Waffengewalt in Chicago tut Harris schlicht als republikanische Propaganda ab, als Versuch »die Schuld den Armen in die Schuhe zu schieben«. Gewalt gehe auch von den Reichen aus, sagt er und verweist auf den Mord am Tech-Unternehmer Bob Lee oder den Fenstersturz des Geliebten von Peter Thiel, der von der Polizei in Miami noch immer untersucht wird. Zweifellos neigt auch Harris zum Populismus und macht es sich bisweilen recht einfach.

Seine eigene politische Erfahrung beruht nicht auf Arbeitsplatz-Organsiationen, wie er die Gewerkschaftsbewegung nennt, sondern eher auf anarchistisch anmutende Selbst-Organisation: Projekte wie ein radikales Kindergarten-Kollektiv, wo Linke sich um die Kinderbetreuung kümmern, damit Eltern Zeit haben, um sich sozial und politisch zu engagieren. Am Ende eines interessanten Artikels über die Café-Kette Starbucks, Slavoj Žižek und Kaffee, schreibt Harris in dem New Yorker Magazin »Intelligencer«: »Wir brauchen linke Cafés« Kaffeehäuser, wo Arbeiter hinter dem Tresen lesen könnten, wo kostenloses Essen an Kameraden an der Kasse vorbei geschmuggelt werden könnte, und wo Linke »sich im Notfall gegenseitig helfen«. Harris greift damit eine linke Tradition auf und bewahrt sie damit vor der Vergessenheit. Aber zugleich ist seine Vision von linken Kaffeehäusern in amerikanischen Städten geradezu utopisch. Dennoch meint er es ernst damit. Er will das Utopische in den Alltag bringen.

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