Einkommen steigen, Reallöhne nicht

Konjunkturforscher: Deutschlands Wettbewerbsposition bleibt unverändert

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Solche Einkäufe sind für viele Menschen nur noch am Monatsanfang möglich.
Solche Einkäufe sind für viele Menschen nur noch am Monatsanfang möglich.

»Erstaunliche Anstiege« bei den Löhnen stellte Sebastian Dullien kürzlich fest. Gegenüber dem ersten Quartal des Vorjahres sind die Löhne in Deutschland um 5,6 Prozent gestiegen – ein Anstieg, wie es ihn seit Beginn der 2000er Jahre nicht gegeben habe, sagte der wissenschaftliche Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf während einer Online-Pressekonferenz am Donnerstag. Die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft habe sich dadurch aber nicht verschlechtert.

»Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und Schwierigkeiten in manchen Lieferketten haben massive Preisschocks und eine historisch hohe Inflation verursacht«, so Dullien. Im Ergebnis seien 2022 in ganz Europa die höchsten Arbeitskostenanstiege seit den 2000er Jahren zu beobachten gewesen.

Deutschlandweit betrugen in Industrie und verarbeitendem Gewerbe 2022 die Arbeitskosten 44 Euro pro Arbeitsstunde. Im EU-Vergleich rangiere die Bundesrepublik damit wie im Vorjahr auf Position vier als Teil einer größeren Gruppe von »Hochlohnländern«, so Dullien, die deutlich über dem Euroraum-Durchschnitt von 36,20 Euro lägen. Zur Hochlohngruppe zählten auch Dänemark mit 49,80 Euro, Belgien mit 46,30, Schweden mit 44,80, Österreich und Luxemburg mit je 43, Frankreich mit 42,90, die Niederlande mit 42,80 und Finnland mit 40,10. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass das verarbeitende Gewerbe in der Bundesrepublik vergleichsweise stark von günstigeren Vorleistungen aus dem Dienstleistungsbereich profitiert – auch wenn es im vergangenen Jahr eine gewisse Annäherung durch die Erhöhung des Mindestlohns gab.

2022 stiegen die industriellen Arbeitskosten in Deutschland um 4,5 Prozent. »Das war sogar etwas schwächer als im Durchschnitt der EU«, so das IMK, wo der Anstieg 4,8 Prozent betragen habe, »und leicht stärker als im Euroraum« mit 4,3 Prozent. Dabei setzen sich die Arbeitskosten aus Löhnen und Lohnnebenkosten zusammen.

Aussagekräftiger für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen exportorientierten Wirtschaft sind die Lohnstückkosten. Diese seien von einer »mittelfristigen Stabilität bei kurzfristigen Ausschlägen« geprägt, schreiben die IMK-Wissenschaftler Ulrike Stein und Alexander Herzog-Stein in einer ebenfalls am Donnerstag veröffentlichten 18-seitigen Studie. So sind im vergangenen Jahr die Lohnstückkosten in Deutschland zwar schneller gestiegen als im Euroraum. »Ein Grund zur Sorge ist das dennoch nicht«, betonte Ulrike Stein. »Die deutsche Wettbewerbsposition ist weiter unverändert.« Die Lohnstückkosten stiegen im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre um jährlich 2,4 Prozent und damit langsamer als im Euroraum insgesamt, wo es 2,5 Prozent waren. Zudem hätten viele außereuropäische Wettbewerber erhebliche Steigerungen bei den Lohnstückkosten zu verzeichnen. Auch ist zu berücksichtigen, dass viele EU-Staaten großen technischen Nachholbedarf gegenüber den Hochlohnländern haben, was zu hohen Lohnstückkosten beiträgt und die Durchschnittswerte verzerrt.

Wie bei der Inflationsrate sind denn auch bei den Lohnkosten die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern extrem. Verglichen mit dem entsprechenden Vorjahresquartal hat das EU-Statistikamt Eurostat im ersten Quartal die höchsten Anstiege der Lohnkosten pro Stunde für die gesamte Wirtschaft in Bulgarien (15,7 Prozent), Rumänien (14,3) und Litauen (13,2) verzeichnet. Vier weitere EU-Mitgliedstaaten verzeichneten einen Anstieg um mehr als zehn Prozent, nämlich Estland (zwölf), Kroatien (11,3), Polen (10,7) und Belgien (10,1). Fast alle betroffenen Länder leiden unter einer besonders hohen Inflation.

Im wirklichen Leben werden die nominalen Lohnsteigerungen von den steigenden Lebensmittel- und Verbraucherpreisen aufgefressen. So meldete das Statistische Bundesamt für das erste Quartal den höchsten Nominallohnanstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008 – unterm Strich lagen die Reallöhne aber um 2,3 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal! Durch die rasanten Preissteigerungen sinken nicht allein die Reallöhne: Die Steuern auf den Arbeitslohn steigen infolge der Progression – eine doppelte Belastung für Lohnabhängige.

Solche Zahlen geben allerdings nur einen Durchschnittswert an. Vor allem kleinere Einkommen haben ein kräftigeres Minus zu beklagen. Wie stark Beschäftigte der Reallohnverlust tatsächlich trifft, hängt auch vom Beruf ab. Spezialisten wie etwa IT-Fachleute oder Beschäftigte in einigen Handwerksberufen verdienen real mehr als je zuvor. Besser schneiden auch Beschäftigte ab, deren Gewerkschaften ein großes Drohpotenzial besitzen und die streikbereit sind. »Gleichzeitig erlitten die Beschäftigten europaweit im Durchschnitt Reallohnverluste«, lautet Dulliens Fazit, »während viele große Unternehmen mit hohen Gewinnen abschlossen.« Aber das ist ein anderes Thema.

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