- Kultur
- Das »Titan«-Drama
Wenn die Zukunft untergeht
Warum erregt das Schicksal der »Titan« die Gemüter mehr als Flüchtlingsdramen?
Im Film »Kursk« (Regie: Thomas Vinterberg), der die Havarie des gleichnamigen russischen Atom-U-Boots im Jahr 2000 schildert, wird gesagt, die desolate russische Kriegsmarine habe ihr bestes Rettungstauchboot an eine amerikanische Firma verkauft, die damit nun Touristen für 20 000 US-Dollar zur Titanic runterbringe. Das war kurz vor 2000, und wenn es stimmt, dann hat sich also in dem Vierteljahrhundert seither der Preis für solcherlei Spektakel mehr als verzehnfacht.
In den sozialen Medien gab es allerhand Debatten darüber, warum die Öffentlichkeit mehr Anteil nimmt am Schicksal einiger reicher Männer im Nordatlantik, die sich selbst in Gefahr gebracht haben, als an jenem Hunderter Flüchtlinge, die aus unwirtlichen Verhältnissen fliehen und fast zeitgleich in der Ägäis unverschuldet auf einem Seelenverkäufer kentern und ertrinken. Psychologen und Medienphilosophen wurden zu Rate gezogen und verbreiteten wenig mehr als die Erkenntnis, dass das Publikum sich eher mit einigen wenigen, namentlich Bekannten und biografisch bestens Dokumentierten identifiziert als mit einer gesichtslosen Masse.
Dem Schicksal der »Titan« wohnt nun mal ein fiebriges Drama inne, ein Countdown zudem, ein Herunterzählen bis zum mutmaßlichen Ende, sowie ein Auffahren aller smarten technischen maritimen Power, die man für so etwas bereithält, wohingegen die Flüchtlingstragödie nichts derart Spannendes zu bieten hat, sondern bloß empörende Zuständigkeitswirrnis und nackten, schwitzigen, existenziellen Horror, bei dem einem körperlich übel wird, wenn man sich das vorzustellen versucht. Welchem Drama wenden sich Medienmacher und Medienkonsumenten da wohl eher zu?
Die Geschichte von der großen »Titanic« und der kleinen »Titan« findet aber vor allem deshalb solchen Widerhall in der Öffentlichkeit, weil ihr eine nahezu mythische Überzeitlichkeit innewohnt. Die Flüchtlingstragödien sind ein Zeichen der Zeit, die uns umgibt, das »Titan«-Drama hingegen verweist auf Zeitlosigkeit und einen Dialog der Epochen. Das »Titanic«-Desaster von 1912 war ein heftiger Einschnitt für all die Fortschritts- und Machbarkeitsprediger. Die Ingenieursversprechungen hatten sich als haltlos erwiesen; die Technik hatte versagt, war zur Falle geworden. Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren ein Rausch der Technik, die Natur schien besiegt, die Gesellschaft konnte sich eklatanter Selbstgewissheit, Künstlichkeit und Dekadenz hingeben. Der Futurismus konnte unverhohlen Gewalt und Geschwindigkeit preisen. Auf der Titanic starben viele »einfache Leute« in der Holzklasse, aber in vollendeter Ironie eben auch eine Menge Großkopferter, die dieses Zeitalter des allmächtigen beweglichen Stahls mitbestimmt und mit Champagner begossen hatten. Und sie hatten sich in völliger Sicherheit gewähnt.
Nach diesem Untergang machte sich schlagartig Skepsis breit, und der kurz darauffolgende Erste Weltkrieg räumte endgültig auf mit dem Mythos von Sicherheit und Segnungen der Technik. Ein Maschinenkrieg, der den Menschen zu einem Klumpen Fleisch, zu Blutmatsch reduzierte. Auch auf militärischem Gebiet hatte es einen Technologiewandel gegeben, auf den der »Hurra!«-Patriotismus nicht im Geringsten vorbereitet war. Aus der Skepsis des »Titanic«-Desasters war tiefste Verstörung geworden. Der Expressionismus machte daraus Höllenvisionen in Wort und Bild, und selbst der Futurismus hielt ein Weilchen erschrocken inne. Das hat sich eingeprägt in die Gene der Moderne. Vorsicht vor den Machbarkeits- und Technologiepredigern!
Diese Epoche hat sich zu »Historie« verfestigt und wird von uns aus der Distanz analysiert. Aber im Unterbewusstsein ist sie noch akut, denn wir alle sind Abkömmlinge dieser Moderne und haben Anteil am kollektiven Unterbewusstsein. Und inzwischen sind wir wieder von den Segnungen der Technik umgeben, vom Weltumbau, von Zeiten- und Technologiewenden und vom »Anything Goes« und »Wir schaffen das« der digitalen Ära.
Es sind fürwahr titanische Projekte in Gang gesetzt worden, viele Versprechungen werden gemacht. Im Gegensatz zu 1912 ist die Skepsis aber schon da, und die Assoziationsketten beginnen zu rasseln, wenn sich nun ausgerechnet die »Titanic« zurückmeldet. Und diese ihre späten Opfer sind erneut Großkopferte und Systemprofiteure, die eigentlich auf der Sonnenseite der schönen neuen Welt und in völliger Sicherheit leben könnten, aber 250 000 US-Dollar hinblättern, um stattdessen die Distanz zum Historischen zu überwinden und ganz weit unten die Mahnmale jener alten Epoche zu besichtigen, die sie, so vermute ich, für längst vergangen hielten. Und auch ihnen, den Passagieren der kleinen »Titan«, hatte man weisgemacht, ihr Boot sei »absolut sicher«.
Die überzeitliche Verzahnung des Damals mit dem Heute ist so frappant, dass sie einem vorkommt wie Literatur, wie ein groß ausgedachter Film. Das ist sie leider nicht.
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