Semra-Ertan-Platz in Kiel: Gedenken an eine Rebellin

Kiel bekommt einen Semra-Ertan-Platz

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 3 Min.
Erinnerungskultur: Semra-Ertan-Platz in Kiel: Gedenken an eine Rebellin

Semra Ertan war eine, die die Unterdrückung der sogenannten Gastarbeiter, zu denen sie selbst gehörte, nicht einfach hinnahm. Und eine, die ihrer Berufung folgte gegen alle Widerstände. Geboren 1957 im türkischen Mersin, als 14-Jährige zog sie mit ihren Schwestern den Eltern nach Deutschland nach. Sie wusste früh, dass sie Dichterin werden wollte. Eines ihrer bekanntesten Gedichte trägt den Titel: »Mein Name ist Ausländer«, und es ist eines von vielen, in denen sie die Lage von ihresgleichen anprangerte.

Mit nur 25 Jahren übergoss sie sich am 24. Mai 1982 an einer vielbefahrenen Kreuzung im Hamburger Stadtteil St. Pauli mit Benzin und zündete sich an. Zwei Tage später erlag sie im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen. Sie wollte mit ihrer Selbstverbrennung ein Zeichen gegen den rasant zunehmenden und allgegenwärtigen Rassismus der bundesrepublikanischen Gesellschaft setzen.

In Kiel, wo Ertan längere Zeit gelebt hat, wird am Samstag erstmals in Deutschland ein Platz nach der Poetin und Aktivistin benannt. Das Forum für Migrant*innen Kiel und der Runde Tisch gegen rechte Ecken aus dem Kieler Stadtteil Friedrichsort laden zur Einweihung des Semra-Ertan-Platzes ein. In Friedrichsort hatte die Familie von Ertan gelebt. Zuerst waren die Eltern 1971 nach Deutschland gekommen, wenig später kam Semra mit ihren sechs Schwestern nach.

Als Gastarbeiterkind hatte Semra Ertan keine Chance, ein Gymnasium zu besuchen. Sie machte eine Ausbildung als technische Bauzeichnerin und arbeitete in dem Beruf in verschiedenen Betrieben. Ehrenamtlich dolmetschte sie für andere Migranten. Gleichzeitig schrieb sie auf Deutsch und Türkisch. So bekam sie in Kiel auch Kontakt zur gewerkschaftlichen Schreibgruppe der IG Druck und Papier. Sie sprach offen aus, dass Türken in Deutschland zwar als billige Arbeitskräfte geschätzt, als Menschen jedoch missachtet wurden.

Zu Lebzeiten wurde ihr literarisches Schaffen kaum wahrgenommen, dabei hinterließ sie rund 350 Gedichte und Satiren. In der Türkei wurden ihre Gedichte nach ihrer Selbsttötung Teil des Schulunterrichts. In Deutschland beschäftigten sich lange nur Aktive in antirassistischen Gruppen mit ihrer wortgewaltigen Anklage an die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Günter Wallraff widmete sein 1985 erschienenes Buch »Ganz unten« über die Ausbeutung türkischer Arbeitsmigranten namentlich auch Semra Ertan.

Einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland wurde ihr Werk erst 2020 mit dem Erscheinen eines Gedichtbandes in Deutsch und Türkisch bekannt. Die Erstauflage des von Ertans Schwester Zühal Bilir-Meier und ihrer Nichte Cana Bilir-Meier herausgegebenen Buches, das neben Gedichten auch Notizen, Briefe, Fotos und handschriftliche Aufzeichnungen enthält, war nach wenigen Monaten vergriffen. 2021 wurde Semra Ertan in Mainz posthum mit der mit 5000 Euro dotierten renommierten Alfred-Döblin-Medaille geehrt.

Die Gedenkveranstaltung anlässlich der Platzeinweihung in Kiel an der Ecke An der Schanze/Falckensteiner Straße beginnt an diesem Samstag um 13 Uhr. Auch Angehörige von Semra Ertan haben ihr Kommen zugesagt.

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