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Israel: Unverhältnismäßiges Handeln

Protesttag gegen die israelische Regierung und ihren Versuch, Kontrollfunktionen der Justiz auszuhebeln

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Mitten in der Zeit, da in Israel normalerweise Berufsverkehr herrscht, begann der Ausnahmezustand. Denn zur Arbeit fuhren am Dienstag viele nicht. Stattdessen blockierten Hunderttausende Autobahnen, Straßen und Plätze. Ärzt*innen verließen ihre Arbeitsplätze, Richter*innen und Staatsanwält*innen auch. Hunderte Digitalexpert*innen erklärten, sie würden künftig nicht mehr für die Geheimdienste, das Militär arbeiten. Ihre Befürchtung: Die Regierung könnte ihre Arbeit künftig für politische Zwecke nutzen, um die Bürgerrechte von Teilen der Gesellschaft einzuschränken, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.

Denn am Montag hatte das Parlament mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit beschlossen, die »Verhältnismäßigkeitsregel« abzuschaffen. Bis zur Rechtskraft sind noch zwei weitere Lesungen möglich. Daneben plant die Regierung eine Vielzahl weiterer Veränderungen im Justizsystem.

Die Regel ergibt sich aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, steht also in keinem Gesetz, und besagt, dass das höchste Gericht des Landes Entscheidungen der Regierung, für die es keinen Parlamentsbeschluss braucht, überstimmen darf. Jahrzehntelang hatten sich weder rechte noch linke Politiker*innen daran gestört. Es herrschte breiter Konsens, dass diese Regel wichtig ist, um Machtmissbrauch zu vermeiden.

Doch nach der letzten Wahl Anfang November sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu dem Vorsitzenden der ultraorthodoxen Schas-Partei, Arje Deri, ein Ministeramt zu. Das Problem: Dari war bereits 2000 zu einer vierjährigen Haftstrafe wegen Korruption verurteilt worden; Ende 2021 wurde er wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Nachdem sich Deri zur Zahlung einer Geldstrafe und zum Rücktritt aus dem Parlament bereit erklärt hatte, wurde die Anklage fallen gelassen. Dass er wenige Monate später erneut kandidierte und ihn seine Partei als Minister durchsetzen konnte, sorgte bei vielen für Entsetzen. Kurz darauf erklärte der Oberste Gerichtshof dann jedoch die Entscheidung für unverhältnismäßig. Netanjahu musste Deri entlassen. Und die Verhältnismäßigkeitsregel tauchte auf dem Schirm der Regierung auf.

In einem bei Facebook veröffentlichten Video behauptete Netanjahu, auch nach der Abschaffung der Regel sei es dem Obersten Gericht weiterhin möglich, gegen übergriffige Parlamentsbeschlüsse vorzugehen. Doch Tatsache ist: Ohne sie hätte Deri im Amt bleiben können. Ohne diese Regel könnte Netanjahu auch dem rechtsextremen Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, jene militärische Einheit namens »Nationalgarde« unterstellen. Eine solche Truppe unter seinem Kommando hatte Ben Gvir als Preis für seine Zustimmung zur Wiedereinsetzung von Verteidigungsminister Joav Galant gefordert. Den hatte Netanjahu vor einigen Monaten gefeuert und damit gigantische Massenproteste ausgelöst.

Kritiker*innen sehen in Gesetzen wie diesen einen gewaltigen Schritt hin zur Diktatur. Die Befürworter*innen indes sehen darin eine Stärkung der Demokratie. Der Abgeordnete und Vorsitzende des Rechtsausschusses, Simcha Rothman, erklärte, es sei undemokratisch, dass ungewählte Richter*innen die Entscheidungen von gewählten Politiker*innen überstimmen könnten. Ein Slogan, der von den Unterstützer*innen der Regierung schon seit Monaten angeführt wird: Wer die Mehrheit habe, müsse so frei wie möglich entscheiden können.

Allerdings kann sich das Blatt auch schnell wenden, nämlich wenn Rechte selbst betroffen sind. So ordnete Verteidigungsminister Galant für drei Siedler, die an den Verwüstungen in einer palästinensischen Ortschaft beteiligt waren, eine viermonatige Verwaltungshaft an – diese ist ohne Gerichtsbeschluss möglich und wird normalerweise gegen Palästinenser*innen angewandt. In diesem Fall jedoch stieg bei den Rechten der Puls. Und selbstverständlich klagte man vor dem Obersten Gerichtshof – auf Grundlage der Verhältnismäßigkeitsregel.

Ein weiteres Argument gegen die Regel beruht jedoch auf dem Vorwurf, die Justiz sei von »Linken« dominiert. Und die würden die Regel dafür missbrauchen, unliebsame Entscheidungen einer rechten Regierung abzumoderieren. Wirkliche Belege dafür fehlen. Aber tatsächlich gibt es keine Mechanismen, die einen solchen Missbrauch, sollte er passieren, verhindern könnten.

Mittlerweile hat das Handeln der Regierung auch erhebliche wirtschaftliche und diplomatische Konsequenzen. Ausländische Investor*innen sind zurückhaltend geworden. Ausländische Geheimdienste haben Bedenken, Geheimdiensterkenntnisse könnten von den rechtsextremen Regierungsmitgliedern für eigene Zwecke missbraucht werden. Die deutlichsten Worte kamen am Sonntag in einem Interview mit dem US-Präsidenten Joe Biden: Die derzeitige Regierung sei die »extremste«, die er in den Jahrzehnten seiner Unterstützung für Israel erlebt habe.

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