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Bootsunglück von Pylos: Kein Mitleid, keine Erlösung

Die Überlebenden des Bootsunglücks von Pylos sitzen weiterhin in Griechenland fest

  • John Malamatinas, Thessaloniki
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Überlebender des Bootsunglücks von Pylos wartet auf seine Asylbefragung im griechischen Malakasa.
Ein Überlebender des Bootsunglücks von Pylos wartet auf seine Asylbefragung im griechischen Malakasa.

Eine der größten Schiffstragödien des Mittelmeers ist mittlerweile mehr als einen Monat her. Bisher sind 82 Tote bestätigt und Hunderte werden vermisst – bis zu 750 Geflüchtete waren an Bord. Was in den Köpfen der Menschheit bleibt, sind die Bilder des überfüllten Boots Adriana. Und vor allem das Bild der zwei Brüder, die im provisorischen Lager in Kalamata aufeinander trafen und doch von einem Zaun getrennt waren – Symbolbild der »Festung Europa«.

Seitdem wird nach den Schuldigen der Tragödie gesucht. Praktisch keine Erwähnung findet das Schicksal der 104 Überlebenden: Im Hafen von Kalamata waren sie in einem inoffiziellen Zentrum für Geflüchtete untergebracht worden, mussten auf dem Boden schlafen. Es war ihnen nicht erlaubt, das Zentrum zu verlassen; Angehörige, die unter Schock aus anderen Ländern anreisten, durften sie nicht besuchen. Selbst den im Krankenhaus untergebrachten Personen wurde keine Gelegenheit gegeben, ihre Angehörigen zu treffen, da die Behörden behaupteten, sie seien in Haft.

Ab dem 16. Juni wurden sie in das sogenannte Empfangs- und Identifizierungszentrum in Malakasa transferiert. Das Zentrum befindet sich in 35 Kilometer Luftlinie von der Innenstadt Athens und funktioniert seit September 2022. Minos Mouzourakis, Referent für Recht bei Refugee Support Aegean (RSA), einer Organisation, die Geflüchtete unterstützt, erklärte gegenüber dem »nd«, dass Griechenland gegen geltendes EU-Recht verstoße: »Das griechische Gesetz untersagt bis zur ersten Registrierung, die Einrichtung zu verlassen – eine Maßnahme, gegen die die EU am 26. Januar ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Sollte Griechenland dies nicht ändern, droht mittelfristig ein Verfahren vor dem Europäischen Gericht in Luxemburg.«

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Nach der Identifizierung der Überlebenden fand schnell die Befragung zum Asylantrag statt. Diese Eile ist laut Mouzourakis unüblich und zeige, dass Griechenland mit der Geschichte schneller abschließen möchte als sonst – ob aus Imagegründen bleibt der Spekulation überlassen. Aber das bedeutet vor allem Nachteile für die Menschen, die unvorbereitet auf diese Befragung treffen. »Dies bedeutet de facto keine Zeit für rechtliche, geschweige denn psychologische Unterstützung«, betont Mouzourakis. Die Befragung findet unter erschwerten Bedingungen statt – per Internetanruf mittels Microsoft Teams über das Handy eines Sachbearbeiters – und die Verantwortlichen sitzen kilometerweit entfernt in Athen. Seit der Identifizierung ist es ihnen gestattet, das Camp zu verlassen. Sie bekommen aber keinerlei Fahrgeld oder Unterstützung, um in die Innenstadt zu fahren oder zum Arzt zu gehen. Falls die Überlebenden lieber auf eigene Faust außerhalb des Lagers leben wollten, würde der Anspruch auf staatliche Unterstützung erlöschen.

Eine große Frage bleibt weiterhin die Zahl der Vermissten und die Identifizierung der Toten. Angehörige reisten nach Griechenland, um direkt vor Ort DNA-Proben abzugeben. Ein Problem ist weiterhin, dass Angehörige verteilt in verschiedenen Ländern leben. Ein Teil der Angehörigen organisiert sich und fordert unter anderem die Bergung des Bootes.

Derweil geht die Suche nach den Schuldigen der Katastrophe weiter. Direkt nach dem Unglück wurden neun Überlebende von den griechischen Behörden festgenommen. Eine neue Untersuchung lässt Zweifel an der Rolle aufkommen, die die griechischen Behörden den neun Ägyptern als Schleuser zuschreiben; ihnen wird Gründung und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Verursachung eines Schiffbruchs und fahrlässige Tötung vorgeworfen. Reporters United, Lighthouse Reports, Der Spiegel, SIRAJ und El Pais enthülltenn jedoch die Verbindung zwischen den wahren Drahtziehern des Schiffbruchs und dem libyschen General Khalifa Haftar, zu dem die griechische Regierung enge Beziehungen aufgebaut hat. Die Europäische Union kooperiert mit Libyen bei ihrer Anti-Einwanderungspolitik und ihrem Versuch, die Schuld von sich zu weisen. Die Journalist*innen Ioanna Louloudi, Mohannad Najar, Lina Verschwele und Sara Creta sprachen mit 17 Überlebenden und Angehörigen der Vermissten, fünf der neun Familien der Beschuldigten und einem Netz von Quellen in Libyen.

Alle Angehörigen behaupten, dass die angeblichen Menschenhändler ausschließlich Passagiere des Schiffes waren. Drei Familien haben Beweise vorgelegt, die ihrer Meinung nach die Unschuld ihrer Angehörigen beweisen, da diese für ihre Reise bezahlt haben. »Dies belegt etwa ein Screenshot eines Whatsapp-Chats, in dem einer der Verhafteten von dem echten Schleuser Informationen über die Kosten der Reise erhält«, heißt es in der Publikation. Außerdem bestätigten fünf der Überlebenden, dass ihre Ankunft in Ostlibyen von Männern der Tariq Bin Ziyad-Brigade erleichtert wurde, die unter der Kontrolle von Saddam Haftar, dem Sohn von Khalifa, steht.

Rechtlich ungeklärt bleibt auch die Frage nach der Verantwortung der griechischen Küstenwache. Die Ermittlungen laufen im Vorstadium im Marinegericht von Piräus, finden aber keine große Erwähnung in den griechischen Medien. Verschiedene unabhängige Untersuchungen, wie etwa eine Kooperation des Instituts Forensis, der britischen Zeitung »Guardian«, der ARD und griechischen Journalist*innen ergaben, dass der Kapitän falsche Angaben zum Kurs seines Schiffs gemacht hat und mit Manövern zum Kentern des Boots beigetragen hat.

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