Kolumbien: Die friedlichen Blauwesten im Cauca

Selbstorganisierte Indigene hören in Kolumbien nicht auf, ihre Gemeinden zu verteidigen. Dabei werden sie massiv bedroht

  • Knut Henkel, Popayán
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Guardia Indígenas zeigen Flagge, obwohl es immer wieder zu Attentaten kommt.
Die Guardia Indígenas zeigen Flagge, obwohl es immer wieder zu Attentaten kommt.

Bei der Vereidigung von Joe Sauca sind die Männer, Frauen und Jugendlichen in den blauen Westen der Guardia Indígena am Versammlungsort María Piendamó kaum zu übersehen. Das Dorf liegt nur ein paar Kilometer von der Kreisstadt Piendamó entfernt und etwa eine halbe Fahrtstunde von Popayán, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Cauca. Dort hat Sauca seit Ende Juni als neuer Sprecher des Rates der indigenen Völker des Cauca (Cric) sein Büro. Guardia Indígena bedeutet so viel wie Indigene Wache. Die Organisation ist für die Sicherheit bei Treffen der traditionellen Autoritäten wie bei der Vereidigung von Sauca verantwortlich.

Die Guardia Indígena wurde als Selbstschutz gegründet, nachdem im Mai 2001 Paramilitärs in Naya ein Massaker angerichtet und mindestens 27 Indigene ermordet hatten. Für Sauca ist die Organisation, der allein im Verwaltungsbezirk Cauca mehr als 10 000 Menschen angehören, aber mehr: »Dort wird unser Nachwuchs ausgebildet und die Identität unserer Jugendlichen gestärkt.« Auch Sauca, der demnächst 40 Jahre alt wird, hat die Guardia durchlaufen. In den Jahren 2020 und 2021 leitete er bereits das Menschenrechtsbüro von Cric. Er kennt sich aus mit der prekären Sicherheitslage im Cauca. »Wir brauchen mehr Sicherheitsgarantien von der Regierung, denn es kommt immer wieder zu Morden und Anschlägen – auch auf die Guardia Indígena«, klagt er.

Die beiden Koordinatoren der Organisation, Janer Quina, der für den gesamten Cauca zuständig ist, und sein Kollege Oveimar Tenorio, der die Arbeit der Guardia im Norden des Cauca mit seinem Team koordiniert, kennen die Gefahrenlage genau. Insbesondere im Norden des Bezirks ist die Zahl der Morde in den letzten beiden Jahren stark gestiegen. Tenorio hat viel zu tun, um die regelmäßigen Koordinationstreffen der gewählten indigenen Vertreter*innen in Orten wie Tacueyó abzusichern. Das kleine Dorf auf dem Weg in die Kleinstadt Toribio ist ein beliebter Treffpunkt der Vereinigung Acin, in der sich 22 Nasa-Gemeinden organisieren. Die indigene Nasa-Ethnie ist die zweitgrößte in Kolumbien.

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Tenorio steht am Rande der Tulpa, dem an den Seiten offenen Versammlungshaus von Tacueyó. Aufmerksam mustert er die Umgebung, während ein Pick-up nach dem anderen auf dem weiter oben liegenden Parkplatz einrollt. Sein Funkgerät schnarrt, hin und wieder nimmt er eine Botschaft entgegen, gibt Anweisungen, grüßt knapp die Ankommenden des für heute anberaumten Treffens der traditionellen Autoritäten.

Auf dem Weg dorthin, einer kurvigen, oft steil ansteigenden Schotterpiste, springen einem die Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda, dem längst verstorbenen Gründer der Farc, ins Auge. Die vier Buchstaben stehen für »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia«, die älteste Guerilla der Region. Die hat zwar nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der kolumbianischen Regierung im November 2016 viele Waffen abgegeben. Doch nicht überall, wie die Parolen an der durch die bergige Landschaft führenden Buckelpiste zeigen.

»Hier sind zwei abtrünnige Einheiten aktiv«, erklärt Henry Chocué leise, »die mobilen Kolonnen Dagoberto Ramos und Jaime Martínez.« Der kräftige Mann von Anfang 50 mit den optimistisch funkelnden Augen vertritt die indigene Gemeinde Las Delicias. Der Zusammenschluss mehrerer Weiler liegt in der zerklüfteten Bergregion von Toribio, wo tiefe Schluchten und mächtige Felsen die Landschaft prägen und wo in Treibhäusern im großen Stil Marihuana angebaut wird.

»Das ist der Fluch der Region«, meint Chocué, der sich etwas abseits vom Versammlungshaus, das sich langsam füllt, auf seinen Bastón stützt. Den halb langen, mit Silber beschlagenen und mit rot-grünen Bändern verzierten Edelholzstock tragen nicht nur die Anführer*innen der Gemeinden, sondern auch die Männer, Frauen und Kinder der Guardia Indìgena. Die ist heute mit mehreren Dutzend Freiwilligen vor Ort. Tenorio koordiniert ihren Einsatz, um das Treffen der traditionellen Autoritäten, zu denen Chocué zählt, zu sichern.

Diese umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen sind nötig, das beweist nicht zuletzt der Angriff auf das Haus von Chocué Mitte September letzten Jahres. Mehrere dissidente Farc-Guerilleros versuchten dort einzudringen. »Wir gehen davon aus, dass sie ihn umbringen wollten. Aber er war nicht da«, raunt Oveimar Tenorio mir zu. Er will Chocué nicht stören. Doch der winkt ab, lässt seinen Blick über die Berglandschaft schweifen und wendet sich uns zu: »Mein Name und auch der von Oveimar stehen regelmäßig auf Pamphleten der Farc-Kolonnen. Wir haben Attentate überlebt, erhalten Morddrohungen per Anruf und Whatsapp. Aber wir machen weiter. Es gibt keine Alternative«, sagt er. »Sie versuchen, das Fundament unserer Gemeinschaft zu attackieren, nehmen unsere spirituellen Anführer*innen, die traditionellen Autoritäten und die Guardia Indígena ins Visier.«

Die Gefahr ist allgegenwärtig. Mindestens 16 Morde hat es im zurückliegenden Jahr gegeben. Die Tendenz ist seit Jahresbeginn 2023 leicht rückläufig. Doch erst Ende Juni wurden zwei indigene Jugendliche in einem Haus in der Kreisstadt Santander de Quilichao ermordet, erzählt Tenorio. Der drahtige, kaum mittelgroße Mann trägt die markante himmelblaue Weste, auf deren Rücken der aufgestickte Schriftzug »Kiwe Thegnas« prangt. »Verteidiger des Territoriums« heißt das in der Sprache der Nasa.

Die Ethnie stellt in der Region Toribio rund 97 Prozent der Bevölkerung. Auch Tenorio gehört ihr an. Der 29-Jährige kennt die Region wie kaum ein anderer. Er ist im Dorf San Francisco aufgewachsen, wo er bis zum September 2021 lebte. Aber verdächtige Gestalten spionierten ihn und seine Familie aus, wenige Tage später schlugen Kugeln in die Wände seines Hauses ein. Niemand wurde verletzt. Doch seitdem lebt er mit seiner Frau und der kleinen Tochter in Santander de Quilichao, wo auch die Dachorganisation der Nasa-Gemeinden, Acin, ihre Zentrale hat. An eine Rückkehr nach San Francisco sei nicht zu denken, sagt Tenorio. Dann gibt er einer Guardia Indígena, die die Schotterpiste nach Tacueyó überwacht, ein Zeichen.

»Unsere zentrale Aufgabe ist es, indigenes Leben und indigenes Territorium zu schützen – ganz ohne Waffen«, erklärt er. Zu seiner Ausrüstung gehören neben dem Bastón das Mobiltelefon, ein Funkgerät, das vor allem in den Bergen, wo es kein Netz gibt, zum Einsatz kommt, und die kurze Machete. Tenorio steht ein Team von rund zehn Frauen und Männern zur Seite, die den Einsatz von rund 2600 Guardia Indígenas im Norden des Cauca koordinieren. Diese friedliche Streitmacht aus Frauen, Männern und Kindern ab zehn Jahren schützt indigene Territorien vor Eindringlingen, sorgt wie beim heutigen Indigenen-Treffen für Sicherheit, fungiert aber auch bei Demonstrationen, Versammlungen und vor den indigenen Gerichten als Ordnungsdienst.

Das ist aber nur eine Aufgabe der Guardia Indígena. »Sie ist vor allem eine Schule des Lebens. Wir bilden die Anführerinnen und Anführer von morgen aus, bewahren und fördern unsere eigene Identität, von der Sprache bis zur Handarbeit«, schildert Tenorio die wichtigsten Funktionen der Guardia Indígena.

Die Organisation hat sich bewährt. »Landesweit gibt es rund 70 000 Mitglieder«, ergänzt Chocué, »nicht nur in indigenen, sondern auch in afrokolumbianischen Gemeinden.« Diese friedliche Arbeit gegen den Kreislauf der Gewalt wurde bereits von Brot für die Welt und Frontline Defenders ausgezeichnet; sie hat allerdings Schattenseiten. Das gibt auch Cric-Sprecher Joe Sauca zu: »Die Guardia ist sichtbar, zeigt ihre Brust, wie wir hier sagen, ihre Mitglieder riskieren ihr Leben wie Oveimar.«

Der ehemalige Koordinator der Guardia Indigena, José Albeiro Camayao, wurde am 24. Januar 2022 ermordet. Auch Tenorio hat mehrere Attentate überlebt. »Kaum ein Mord an indigenen Autoritäten und Mitgliedern der Guardia Indígena wird aufgeklärt«, kritisiert Sauca. Das wundere ihn nicht, sagt auch Tenorio, der gerade von einem Rundgang zurückkehrt. »In allen 16 Mordfällen dieses Jahres kommen die Ermittlungen nur schleppend voran, etliche Morde drohen straffrei auszugehen.« Er gibt einer Blauweste am anderen Ende der Tulpa, in der mittlerweile die meisten Plätze besetzt sind, ein Zeichen.

In einigen Minuten wird es losgehen mit der Diskussion über neue Sicherheitskonzepte und die Initiativen der neuen Regierung um Gustavo Petro. Die hat den Dialog mit allen bewaffneten Akteuren auf regionaler Ebene aufgenommen. Das ist für Tenorio erst einmal ein positives Zeichen. Doch er verweist genauso wie Chocué und Sauca darauf, dass die versuchten Rekrutierungen von Minderjährigen durch die bewaffneten Akteure ein großes Problem sei. Immer wieder komme es nämlich zu gefährlichen Konkurrenzsituationen. »Die Guardia Indígena macht den bewaffneten Akteuren den Nachwuchs streitig. Das ist ein Risiko für die Familien und für die Organisation selber«, sagt Sauca. »Wer die Guardia Indígena durchlaufen hat, lässt sich für diesen Krieg nicht einfach rekrutieren.«

Er weiß genau, dass die Guardia Indígena in einer ganzen Reihe von Fällen Jugendliche aus den Fängen der Guerilla und auch von Drogenbanden befreit hat – friedlich, durch Präsenz und hartnäckiges Insistieren. Riskant, aber erfolgreich wie insgesamt die Arbeit der Freiwilligen in den blauen Westen. Die haben den Versammlungsort von Tacueyó abgeriegelt und die Zufahrtswege im Blick. Es kann losgehen, und pünktlich summt das Mobiltelefon von Tenorio. Er wird ins Innere der Tulpa gerufen.

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