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  • Sportsoziologin Christiana Schallhorn

»Mädchen brauchen im Fußball Vorbilder«

Christiana Schallhorn über bunte Vielfalt und toxische Männerkultur auf den Rängen, den offenen Umgang der Spielerinnen mit Homosexualität, die Rolle der Australierinnen und die Folgen des deutschen Ausscheidens bei der Weltmeisterschaft der Frauen

  • Interview: Frank Hellmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Weibliche Fußballstars wie Cheyna Matthews vom Team Jamaikas, hier beim Selfie-Schießen mit Fans bei der WM im australischen Perth, sind neue Role Models für Mädchen.
Weibliche Fußballstars wie Cheyna Matthews vom Team Jamaikas, hier beim Selfie-Schießen mit Fans bei der WM im australischen Perth, sind neue Role Models für Mädchen.

Sie reisen gerade für eine wissenschaftliche Untersuchung als Sportsoziologin durch Australien und sehen die WM aus einem anderen Blickwinkel, weil sie überall Leute befragen. Wozu?

Frauenfußball ist seit einiger Zeit weltweit im Aufschwung. Immer mehr Nationen professionalisieren ihn gerade, auch die Medien haben ein größeres Interesse daran, und viele Fans freuen sich über mehr Sichtbarkeit. Während beim Männerfußball aber länderübergreifend die Bedeutung der Sportart ähnlich ist, zeigen sich beim Frauenfußball große Unterschiede, insbesondere auch durch kulturelle Einflüsse. Wir gehen der Frage nach, wie sich vor allem die Fankultur im Frauenfußball von der im Männerfußball in den unterschiedlichen Ländern gestaltet.

Sie halten den Leuten in Australien einen QR-Code unter die Nase, um einen umfangreichen Fragebogen in Englisch, Spanisch und Deutsch beantworten zu lassen. Wie ist die Resonanz?

Wir haben gemerkt, dass es im Umfeld der Spiele relativ schwierig ist, Fans zum Mitmachen zu gewinnen, weil sie davor und danach andere Interessen haben als einen Fragebogen auszufüllen. Deswegen sprechen wir die Menschen vor allem in der Nähe von Fan-Festen oder Sportbars an, aber auch in der Stadt, in der Bahn, am Flughafen – eben da, wo man mit ihnen ins Gespräch kommt. Je mehr mitmachen, desto besser. Aktuell liegen wir bei 150 Teilnehmer*innen. Aber die WM läuft ja noch.

Interview
Christina SchallhornFoto: privat

Christiana Schallhorn ist Junior-Professorin für Sportsoziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Aktuell führt die 39-Jährige bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in den australischen Spielorten Sydney und Melbourne eine Befragung durch, um herauszufinden, welchen Stellenwert der Frauenfußball in verschiedenen Ländern hat. Seit Jahren forscht sie zur Berichterstattung von Sportgroßereignissen und deren Wirkung bei Rezipierenden. Zur Fußball-WM 2014 in Brasilien analysierte sie die mediale Berichterstattung und die Wahrnehmung des Gastgeberlandes in Deutschland.

Sie erfragen, ob die Spielerinnen weniger Schauspielerei betreiben oder ob sie Werte wie Vielfalt, Respekt und Offenheit verkörpern. Wird das immer nur behauptet?

Die von uns formulierten Fragen und Aussagen sind erste Ergebnisse einer Vorstudie, bei der wir bereits Fans aus Deutschland und Australien befragt haben. Das wollen wir jetzt mit einer größeren Stichprobe validieren. Wissenschaftlich sind manche Eindrücke schwer zu belegen, dann müsste man beispielsweise genau die Zeit messen, wie lange Männer und Frauen nach Foulspielen liegen bleiben.

Wer sich in den Stadien umsieht, bekommt sofort den Eindruck, dass Vielfalt in der Besucherschaft herrscht.

Ja. Man sieht Familien mit Kindern, junge und ältere Menschen, Frauen wie Männer in den Stadien. Man hat das Gefühl, es ist eine ganz bunte Mischung, die alle das gemeinsame Ziel verfolgen, ihre Spielerinnen zu unterstützen. Es geht ihnen darum, gemeinsam eine schöne Zeit zu haben. Und besonders ist ja auch, dass die Spielerinnen gerne mit den Fans in Kontakt treten und mit sehr vielen Themen offen umgehen.

Auch mit Homosexualität.

Das ist eins von vielen Themen. Die Fankultur beim Frauenfußball betrachtet sich auch unter anderem deshalb als sehr inklusiv, weil alle unabhängig vom Geschlecht und der sexuellen Orientierung willkommen sind. Das hat man beim Männerfußball meist nicht, wo beispielsweise Homosexualität bei Spielern und Fans oft noch ein Tabuthema ist. Im Frauenfußball ist das anders. Die meisten Fußballerinnen gehen offen mit ihrer Sexualität um. Fans, die sich der LGBTIQ-Gemeinschaft zugehörig fühlen, schätzen es, einen Sport zu haben, bei dem sie sich unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und ihrem Geschlecht akzeptiert fühlen.

Bei einigen WM-Spielen war die Stimmung gar nicht mehr viel anders als bei den Männern, wenn beispielsweise Kolumbien gespielt hat. Im Fragebogen taucht dazu der Begriff »toxische Männlichkeit« auf. Warum?

Diese Bezeichnung wurde in unserer Vorstudie von vielen Befragten verwendet. Toxische Männlichkeit meint hier ein sehr dominantes, aggressives bis gewaltaffines Verhalten, was als typisch männlich empfunden wird, aber natürlich auch von Frauen ausgelebt werden kann. Das Verhalten der kolumbianischen Fans muss man davon differenzieren. Das ist in deren Fankultur normal und ein Zeichen guter Unterhaltung und keineswegs mit Aggressivität gleichzusetzen. Pfiffe und Buhrufe sind in Südamerika oft nur Teil der Unterhaltung.

Wie nehmen Sie persönlich die WM wahr?

Ich war hier erst ein bisschen enttäuscht, dass außerhalb der Stadien und Fanmeilen relativ wenig Stimmung war. Das liegt auch daran, dass nur die Spiele der Matildas, der australischen Fußballerinnen, im frei empfangbaren Fernsehen laufen. Die anderen sind nur in einem Bezahl-Streamingdienst zu sehen, und deshalb haben wahrscheinlich viele Australier*innen anfangs eher wenig von der Weltmeisterschaft mitbekommen.

Lag es vielleicht auch daran, dass Fußball in beiden Gastgeberländern nicht an erster Stelle steht, sondern Rugby?

Jein. Die Nationalsportarten sind andere, aber die fehlende Sichtbarkeit ist für mich das Kardinalproblem. Was nicht gezeigt wird, ist im Bewusstsein nicht vorhanden. Stellen wir uns doch nur vor, ARD und ZDF hätten die WM nicht in Deutschland übertragen. Dann wäre das Interesse sicher deutlich geringer gewesen. Jetzt haben die Australierinnen aber mit dem Einzug ins Viertelfinale ganz viel angestoßen: Sam Kerr ist ein Superstar auf diesem Kontinent. Man bekommt mit, dass viele Mädchen sie bewundern, ihr nacheifern wollen. Solche Identifikationsfiguren sind ganz wichtig. Gerade Mädchen brauchen im Fußball solche Vorbilder, um mit alten Stereotypen zu brechen. Insofern haben die Matildas viel erreicht.

Wie erklären Sie die Tatsache, dass der Frauenfußball in den Ländern so einen unterschiedlichen Stellenwert hat?

Das hängt natürlich viel mit der kulturellen Bedeutung des Sports und insbesondere des Fußballs zusammen. Aus meiner Sicht wird Fußball auch in Deutschland von vielen immer noch als klassischer Männersport betrachtet, während Australien eher vom »beautiful game«, vom schönen Spiel spricht. Hier ist Fußball fast schon weiblich konnotiert. In Australien ist der Frauenfußball populärer als der Männerfußball. In den USA sind die Frauen im Fußball auch deutlich erfolgreicher als die Männer. In den arabischen Ländern war und ist es mitunter immer noch schwierig, wenn Mädchen Fußball spielen wollen. Es gibt also Diskrepanzen beim Zugang zu diesem Sport.

Auffällig ist, dass sich in Deutschland Sportwissenschaft, Sportmedizin und Sportsoziologie eher wenig mit Frauenfußball beschäftigt haben. Sie beackern gerade unerforschtes Gebiet.

Wir sprechen tatsächlich diesbezüglich von einer Datenlücke. Auch die Wissenschaft interessiert sich in erster Linie für den Männersport. Aber das wandelt sich. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft steigt das Interesse am Frauensport. Mittlerweile wird im Zuge vieler Debatten, Stichwort Equal Pay und Gleichberechtigung, erkannt, dass der Sport Anstöße für Veränderungen in der Gesellschaft geben kann. Deswegen brauchen wir Forschung zum Frauensport, zu den Fans und zur Fankultur.

Könnte das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft vielleicht dafür sorgen, dass der angestoßene Boom mit der EM in England jetzt abflaut?

Ich glaube nicht an einen negativen Effekt für den deutschen Frauenfußball infolge des unerwartet frühen Ausscheidens. Fans halten auch in Krisen zu ihren Spielerinnen und Vereinen. Aber ich gehe davon aus, dass das Potenzial, das durch die WM vorhanden war, um beispielsweise für den Frauenfußball zu werben und Menschen in Deutschland dafür zu begeistern, dadurch nicht optimal genutzt werden konnte.

Sie haben mit ihrer Mitarbeiterin das deutsche Ausscheiden in der Fanzone verfolgt. Was haben Sie seitdem an Reaktionen erlebt?

In der Fanzone in Sydney waren nur wenige deutsche Fans, aber es herrschte Fassungslosigkeit und Enttäuschung. Dennoch – und das spiegelt sich sowohl in den Gesprächen als auch in den Diskussionen in den Sozialen Medien wider – überwiegt das Bedürfnis nach Analyse und Erklärungen. Die Aufarbeitung möglicher Versäumnisse wird hoffentlich dazu beitragen, die Nationalmannschaft wieder in die Erfolgsspur zu bringen. Das wünschen sich alle.

Und wer wird jetzt ohne die Deutschen der neue Weltmeister?

Die beste Frage zum Schluss (lacht) Als mögliche Titelgewinnerinnen habe ich die Teams von Japan und Großbritannien als Favoriten auf dem Zettel.

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