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Unbekanntes Leben aus dem Eis

Schmelzende Gletscher und tauende Böden können Mikroorganismen aus der Vergangenheit freisetzen – mit uvorhersehbaren Folgen für bestehende Ökosysteme

Im Jahr 2018 gelang es russischen Wissenschaftler*innen, aus aufgetauten Bodenproben, die sie am Fluss Kolyma im Nordosten des Landes genommen hatten, zwei Fadenwürmer wiederzubeleben und anschließend auch zur Vermehrung zu bringen. Bei den Würmern, die zuvor 46 000 Jahre im Permafrost überdauert hatten, handelt es sich um eine bisher unbekannte Art, ergaben nun Analysen am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Die Biolog*innen nannten den Wurm, der sich auch ungeschlechtlich vermehren kann, »Panagrolaimus kolymaensis« und klärten auch den Mechanismus auf, der ihm das Überleben im eingefrorenen Zustand ermöglicht.

Panagrolaimus kolymaensis war nicht der erste Organismus aus dem Eis, der nach Zehntausenden bis Hunderttausenden von Jahren zu neuem Leben erwacht ist, aber vielleicht der erste Mehrzeller. Bereits im Jahr 2003 wurden Bakterien aus einem Eisbohrkern vom Quinghai-Tibet-Plateau wiederbelebt. 2014 geschah dies mit einem Riesenvirus, dem »Pithovirus sibericum« aus 30 000 Jahre altem sibirischem Permafrostboden. Und 2016 kam es – ohne wissenschaftliche Wiederbelebungsversuche – zu einem Ausbruch von Milzbrand bei Rentieren und Menschen, nachdem Sporen des Bakteriums Bacillus anthracis aus dem tauenden Permafrost in Sibirien freigesetzt worden waren, wie der Ökologe Corey Bradshaw und der Datenwissenschaftler Giovanni Strona im Wissenschaftsmagazin »The Conservation« berichten.

Bei den bekannten Fällen handelte es sich also bisher um einzellige Organismen, doch gerade diese können, wie das Beispiel Anthrax zeigt, höchst pathogene Eigenschaften besitzen. Und laut einer jüngst in »PLOS Computational Biology« veröffentlichten Studie stellen solche Pathogene aus der Vergangenheit, die mit der Eisschmelze von Gletschern und Permafrost freigesetzt werden könnten, ein großes Risiko für bestehende Ökosysteme dar.

Dominanz und Aussterben

Das Forschungsteam um Corey Bradshaw von der Flinders University in Australien und Giovanni Strona von der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission untersuchte in Computersimulationen, wie Mikroorganismen aus der Vergangenheit sich auf aktuelle Bakterienökosysteme auswirken. In den Simulationen konnten die Invasoren aus der Vergangenheit oftmals in der modernen Umgebung überleben und rund drei Prozent wurden in den neuen Gemeinschaften dominant. Rund ein Prozent der Invasoren führten zu unvorhersehbaren Veränderungen. Manche ließen bis zu einem Drittel der Bakteriengemeinschaft aussterben, andere führten zu einer Zunahme der Biodiversität um bis zu zwölf Prozent. »Unsere Ergebnisse sind besorgniserregend, weil sie auf ein tatsächliches Risiko der seltenen Fälle hinweisen, in denen Krankheitserreger, die derzeit im Permafrost und Eis eingeschlossen sind, schwere ökologische Folgen haben«, beurteilt Bradshaw das Ergebnis.

Reale Viren und Bakterien wurden in der Studie allerdings nicht verwendet, sondern mit der Simulationssoftware Avidia wurde ausschließlich das Verhalten digitaler Mikroorganismen untereinander betrachtet. »Unsere Welten entsprechen konzeptionell großen Petrischalen mit Bakterien und Phagen«, erklärt Giovanni Strona auf nd-Anfrage. Phagen sind Viren, die ausschließlich Bakterien infizieren. Strona betont, dass trotz offensichtlicher Unterschiede zwischen den Organismen in Avidia und echten Bakterien und Viren bereits in der Vergangenheit gezeigt werden konnte, dass die Evolutionsprozesse in der Simulationssoftware stark mit der in der realen Welt beobachteten Evolution übereinstimmen. Daraus ergibt sich eine neue Forschungsmethode, die sich »in silico« nennt (übersetzt »in Silizium«, also auf dem Mikrochip), angelehnt an die Methoden »in vivo«, also im lebenden Organismus oder in der lebenden Umgebung und »in vitro«, im Reagenzglas oder unter Laborbedingungen.

Eigenschaft als Zeitreisende

Um nicht einfach nur den Einfluss von Invasoren auf ein bestehendes Ökosystem abzubilden, sondern die Eigenschaft dieser Eindringlinge als »Zeitreisende« zu berücksichtigen, ließen die Wissenschaftler die digitale Gemeinschaft sich über einen bestimmten Zeitraum entwickeln. Dann setzten sie Pathogene aus dem Anfang der Simulation neu in das aktuelle Modell ein. »Die Abstammungslinien der modernen Organismen waren so schon den Pathogenen aus der Vergangenheit ausgesetzt, was bei biologischen Invasionen im räumlichen Sinne nicht der Fall wäre«, sagt Strona. Dadurch konnte beispielsweise beobachtet werden, ob eine Immunität über einen langen Zeitraum bestehen blieb.

Von Bakterien und Phagen aus der digitalen Petrischale ist es natürlich ein sehr weiter Weg bis zu den möglichen Auswirkungen, die reale Pathogene aus dem Eis auf höhere Organismen und die menschliche Gesundheit haben könnten. Ohne über letztere eine Aussage treffen zu wollen, warnen die Wissenschaftler vor weitreichenden Veränderungen durch Pathogene aus der Vergangenheit. »Zeitreisende Krankheitserreger können möglicherweise neue Umgebungen schaffen, und neue Umgebungen können neue Risiken für neu auftretende Krankheiten, Spillover-Ereignisse, Zoonosen usw. mit sich bringen«, gibt Strona zu bedenken.

Keine erkennbaren Muster

Allein die schiere Menge an Biomasse, die aus dem auftauenden Eis freigesetzt werden kann, birgt nach Einschätzung der Forscher ein Risiko. Einer 2012 in »Environmental Microbiology« veröffentlichten Studie zufolge wurden im Schmelzwasser des Svalbard-Gletschers über einen Zeitraum von 36 Tagen ungefähr 7,5 x 1014 Zellen gemessen. Die Unwägbarkeit von Risiken wird dadurch verstärkt, dass sich aus der simulierten Evolution der zeitreisenden Mikroorganismen keine Muster ablesen ließen, wie die Wissenschaftler gehofft hatten. Der einzige praktische Handlungsansatz, um das Risiko biologischer Invasionen aus der Vergangenheit zu verhindern, bleibe der altbekannte, meint Strona: Treibhausgasemissionen zu reduzieren.

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