Rad-WM in Glasgow: Die Deutschen fahren auf der Straße hinterher

Ihre Titel und Medaillen holten die deutschen Radsportler bei der WM nicht auf der Straße, andere sind da innovativer

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Ungewöhnlich, aber aerodynamisch gut: Zeitfahr-Weltmeister Remco Evenepoel mit einer Flasche unter dem Trikot an der Brust
Ungewöhnlich, aber aerodynamisch gut: Zeitfahr-Weltmeister Remco Evenepoel mit einer Flasche unter dem Trikot an der Brust

Die bislang größten und umfassendsten Weltmeisterschaften im Radsport gingen am Sonntag in Glasgow zu Ende. Für die Gastgebernation Großbritannien waren sie ein großes Fest: Insgesamt 46 Regenbogentrikots, davon 24 bei den Paracycling-Wettbewerben, eroberten britische Fahrerinnen und Fahrer. Deutschland war mit 16 Regenbogentrikots, davon fünf beim Paracycling, dabei.

Viele Titel sammelten dabei die deutschen Kunstradfahrer. Lukas Kohl, genannt der »Lukinator«, wurde in Schottland zum siebten Mal Weltmeister in diesem Wettbewerb der Sprünge auf Lenker und Sattel. »Ich kämpfe immer gegen die Schwerkraft und strebe stets nach Perfektion«, lautet das Motto des 26-Jährigen. Er ist, im Gegensatz zu Profiradsportlern auf der Straße, noch ein echter Amateur. Als gelernter Wirtschaftsingenieur arbeitet er zunächst acht Stunden pro Tag als Controller und schwingt sich erst danach auf sein Rad. Seinen Trainingsplan beschreibt er folgendermaßen: »Montags, mittwochs und freitags wird die Technik studiert, an den Tricks gearbeitet, dienstags und donnerstags steht Ausdauertraining auf dem Programm.« Am Wochenende kommen dann die Wettkämpfe. Welch Unterschied zu den Profis, die von ihren Teams fürs Treten gut bis exzellent bezahlt werden. Trotzdem waren die Kunstradfahrer wieder mal die Medaillenschmiede beim Bund Deutscher Radfahrer (BDR). Im offenen Doppel, bei dem die zwei Athleten oft sogar übereinander auf dem Rad stehend Kunstfiguren vollführen, siegten Serafin Schefold und Max Hanselmann. Und im Duo der Frauen konnten sich Selina Marquardt und Helen Vordermeier die Regenbogentrikots abholen.

Ein weiterer Paradebereich sind seit vielen Jahren die Kurzzeitbahnwettbewerbe der Frauen. Das phänomenale Trio Emma Hinze, Pauline Grabosch und Lea Friedrich fuhr zu zwei Titeln und insgesamt fünf Medaillen. Für Aufmerksamkeit sorgte auch der Mountainbiker Henri Kiefer, der bei den Junioren Weltmeister im Downhill-Wettbewerb wurde. Diese Titelkämpfe zeigten aber auch, dass deutsche Athletinnen und Athleten in vielen Disziplinen nur mühsam den Anschluss an die Weltspitze herstellen können.

In der einstigen Domäne Zeitfahren, in der Männer wie Frauen jahrzehntelang das Niveau bestimmten und mit Jan Ullrich, Bert Grabsch oder Tony Martin sowie Hanka Kupfernagel, Judith Arndt oder Lisa Brennauer auch Titel gewannen, geht kaum noch etwas. Bei den Männern reichte es diesmal für Lennard Kämna nur zu Platz 18 – mit drei Minuten Rückstand auf den neuen Weltmeister Remco Evenepoel. Dabei verpasste Kämna um zwei Sekunden auch das Startrecht für einen zweiten deutschen Fahrer bei den Olympischen Spielen im kommenden Jahr in Paris.

Bei den Frauen sprang ebenfalls nur ein 18. Platz für Mieke Kröger heraus. Sie war immerhin schon mal Weltmeisterin in der Mixed-Staffel auf der Straße und gehörte auch zum olympischen Goldvierer in der Teamverfolgung auf der Bahn in Tokio. Aber nach dem Rücktritt von Weltmeisterin und Olympiasiegerin Lisa Brennauer klafft auch hier eine Lücke. Im Vierer auf der Bahn reichte es nur zu einem siebten Platz, in der Mixed-Staffel auf der Straße gelang vor allem dank der starken Fahrt der drei Frauen – Lisa Klein, Ricarda Bauernfeind und Franziska Koch – mit Platz drei zumindest wieder der Sprung auf das Podest.

Für ein Regenbogentrikot bei den Straßenwettbewerben konnte lediglich Antonia Niedermaier sorgen. Sie gewann die U23-Wertung im Zeitfahren, das im Rahmen des Zeitfahrens der Frauen ausgetragen wurde. Ihre Zeit reichte unter den Erwachsenen immerhin noch zu Platz elf. Verbunden mit ihren Kletterkünsten, die sie beim Bergetappensieg beim Giro Donne, der Italienrundfahrt der Frauen, unter Beweis gestellt hat, macht die in Glasgow gezeigte Zeitfahrstärke große Hoffnung, ein neues Rundfahrttalent am Start zu haben. Im Abschlusswettbewerb dieser Titelkämpfe, dem Straßenrennen der Frauen am Sonntag (n. Red.), hatte die 20-jährige Niedermaier aus Rosenheim zudem eine weitere Chance auf Edelmetall in der U23-Kategorie. Auch hier nahm der Nachwuchs am Rennen der Frauen teil.

Die WM in Glasgow wartete auch mit einigen technischen Finessen auf. Wout van Aert, Vizeweltmeister im Straßenrennen der Männer, trat etwa mit nur einem Kettenblatt an. Der Belgier hoffte auf die Effekte von etwas weniger Gewicht und besseren aerodynamischen Eigenschaften. Auch seine Teamkollegen vom Jumbo-Visma-Rennstall, Primoz Roglic und Jonas Vingegaard, benutzten bei ihren Triumphen beim Giro d’Italia und der Tour de France an einigen Tagen das Solo-Kettenblatt. Angesichts der Erfolge des Rennstalls könnte das einen regelrechten Trend zur Komplexitätsreduzierung auslösen.

Ein anderes interessantes Detail war die Flasche unter dem Trikot auf der Brust, die der Belgier Evenepoel bei seinem Gewaltritt zum Zeitfahrtitel trug. Im Triathlon nutzen das einige Spitzenathleten schon länger. Auch das soll aerodynamische Vorteile bringen.

Einen Retrotrend könnte der britische Radprofi und Technikbastler Dan Bigham auslösen. Er ist nicht nur der Aerodynamik-Experte beim britischen Rennstall Ineos Grenadiers, wo er beispielsweise das Rad vom neuen Einerverfolgungsweltmeister Filippo Ganna optimiert. Er kam sogar selbst bis ins Finale gegen den Italiener Ganna und war dort nur etwa eine halbe Sekunde langsamer. Und Bigham nutzte dabei die alten Felgenbremsen anstelle der moderneren, aber wuchtigeren Scheibenbremsen. Das Alte ist das Gute, könnte man für den Freizeitradsport ableiten: Nutzt weiter Felgenbremsen und ein Kettenblatt vorn macht es auch.

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