»Falschparken kommt in dieselbe Kategorie wie Kokainhandel«

Die Diskussion über vermeintliche Clankriminalität ist in aller Munde. Doch wie ist es, wenn man Teil einer arabischen Großfamilie ist? Mohamed Chahrour gibt Antwort

  • Interview: Isabella Caldart
  • Lesedauer: 8 Min.
Was ist hier los? Der Vorwurf ist verbreitet, dass bei Razzien mit zweierlei Maß gemessen wird. Mohamed Chahrour klagt darüber, dass Bagatelldelikte aufgebauscht werden.
Was ist hier los? Der Vorwurf ist verbreitet, dass bei Razzien mit zweierlei Maß gemessen wird. Mohamed Chahrour klagt darüber, dass Bagatelldelikte aufgebauscht werden.

Ihr Podcast heißt »Clanland« – aber ist der Begriff »Clan« nicht generell problematisch, weil er stigmatisierend ist?

Nein, der Begriff »Clan« wird erst dann problematisch, wenn wir denen, die ihn negativ aufladen, die Deutungshoheit überlassen. »Clan« ist die Übersetzung des arabischen »Ashira«, an sich ein wertfreier Begriff, der im Deutschen aber mit allerlei merkwürdigen Zuschreibungen besetzt wird. Und hört man auf, ihn zu verwenden, stehen diese Stigmatisierungen alleine im Raum. Teile meiner eigenen Familie kritisieren mich, weil ich dieses Wort benutze. Aber ganz ehrlich, wer so anfängt, kann auch damit aufhören, sich Muslim zu nennen, weil das in Deutschland ebenfalls ziemlich negativ behaftet ist. Es geht auch gar nicht wirklich um Clans – ich glaube nicht, dass sich irgendjemand an schottischen oder irischen Clans stört – sondern es ist immer der Zusammenhang von Kultur und Religion. Leute sollten selbstbewusst mit dem Begriff umgehen. Wir sollten die Negativität, die uns von außen aufgezwungen wird, nicht akzeptieren. Es ist unsere Aufgabe, dem Begriff seine ursprüngliche Bedeutung und Würde zurückzugeben. Sonst geben wir anderen die Macht, weiterhin unsere Geschichten für uns zu schreiben und über uns statt mit uns zu reden.

Ex-Linken-Politiker Fabio De Masi hat im Zuge der sogenannten Maskenaffäre die CDU als „Clan“ bezeichnet.

Das fanden viele aus der arabischen Community ein bisschen witzig und haben dann sarkastische Sachen wie »Clankriminalität« und »Spahn-Clan« geschrieben. An sich ist es aber schade, dass man den Begriff Clan hier wieder im negativen Kontext mit der Maskenaffäre verwendet. Wenn man den Leuten ihre eigene Medizin schlucken lassen möchte, geht das nicht, ohne das Wort selbst negativ aufzuladen. Man opfert das Wort Clan, um die CDU zu ärgern. Aber vielleicht ist das manchmal einfach nötig und hinnehmbar.

Interview

Mohamed Chahrour (*1993 Berlin) ist hauptberuflich Schauspieler. Zusammen mit Marcus Staiger recherchierte er für das Buch »Dakhil« (2022) in arabischen Großfamilien; aus der Fülle des Materials entstand außerdem der Podcast »Clanland« (2021), mit dem sie für den Deutschen Radiopreis 2021 nominiert waren.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Aussage der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gehört haben, man solle künftig Menschen mit demselben Nachnamen leichter abschieben können?

Ich war frustriert. Manchmal fühlt es sich an, als wäre der Kampf ums Dazugehören in Deutschland ein Kampf gegen Windmühlen. Es wird immer wieder versucht, die Familie von Menschen mit »gebrandmarkten« Nachnamen als kriminelle Vereinigung hinzustellen. Wenn sich das durchsetzt, wäre das eine Art Kollektivbestrafung. Das Ganze hat aber keine rechtsstaatliche Substanz. Genau wie die Razzien in Shishabars, die aber trotzdem stattfinden und zum Teil vehement verteidigt werden. Noch ist nicht klar, ob Faesers Idee in die Tat umgesetzt wird. Wenn es soweit käme, dann blieben uns noch Mittel wie Verfassungsbeschwerden. Eine so unfaire Behandlung wird jedenfalls niemand hinnehmen.

Kürzlich wurde in Berlin das »Lagebild Clankriminalität« veröffentlicht, laut dem die Polizei im Zusammenhang mit sogenannter Clankriminalität 872 Straftaten zählt. Was sagen Sie dazu?

Die Berliner Polizei macht immerhin keinen Hehl daraus, dass sie auch Ordnungswidrigkeiten in diese Statistik aufnimmt und mit Schwerstkriminalität vermischt. Es ist schlichtweg absurd: Falschparken kommt in dieselbe Kategorie wie Kokainhandel. Hauptsache, die Statistik wird gefüttert. Zudem sind 872 Straftaten im Verhältnis zu, ich weiß nicht, Hunderttausenden an „Personenpotenzial“ – wie es das Bundeskriminalamt formuliert hat, um die Sinnlosigkeit der extra für uns angelegten Kategorie weniger sinnlos erscheinen zu lassen – relativ gering.

Am Ende machen die 303 ermittelten Tatverdächtigen gerade einmal 0,2 Prozent aller potenziell Tatverdächtigen in Berlin aus …

Man sollte doch meinen, dass eines der angeblich größten Kriminalitätsphänomene unseres Landes mehr als nur 0,2 Prozent der potenziell Tatverdächtigen ausmacht. Die Polizei wird das allerdings genauso wenig überraschen wie uns. Sie ist es schließlich unter anderem, die die sogenannte Politik der tausend Nadelstiche umsetzen muss. Sie weiß genau, wie viel Geld bei den Razzien für sehr geringe Funde ausgegeben wird: unverzollter Tabak bei den Betreibern von Shishabars oder Funde kleinster Mengen an Drogen oder Waffen bei Kunden. Diese werden dann, im Gegensatz zu deutschen Lokalen, den Betreibern zur Last gelegt.

Innensenatorin Iris Spranger (SPD) plädiert für eine Beweislastumkehr: Mit ihr müsste zum Beispiel ein Tatverdächtiger, der über keine Einkünfte, keine bekannten Vermögenswerte verfügt, aber Immobilien in Millionenhöhe bar erworben hat, nachweisen, woher die hierfür genutzten Gelder stammen. Was denken Sie darüber?

Ich sehe eine Beweislastumkehr zwiespältig. Klar, sie könnte effektiv gegen Geldwäsche und organisierte Kriminalität eingesetzt werden. Aber würde dann wirklich jeder gleichermaßen infrage gestellt? Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass sich die Torbens wegen der Unschuldsvermutung für Deutsche herzlich wenig einen Kopf über solche Sachen machen müssten, während Menschen mit arabischem, kurdischem oder türkischem Hintergrund ziemlich häufig unter Generalverdacht gestellt würden. Solche Regelungen könnten Türöffner sein und weit über das ursprünglich Intendierte hinausgehen. Es geht auch nicht nur um Immobilien. Wenn mir mein Vater etwa eine teure Uhr vererbt und mir das niemand glauben möchte, dann war’s das. Letztlich könnte das Vorgehen bei der Vermögensabschöpfung ein effektives Werkzeug zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sein, aber es lässt gleichzeitig auch viel zu viel Raum für ungleiche Behandlung. Es ist ein zweischneidiges Schwert.

Ist das mit rechtsstaatlichen Prinzipien überhaupt zu vereinbaren?

Da kann ich nicht viel zu sagen, weil ich kein Jurist bin. Das Bundesinnenministerium lässt das aber prüfen – so lächerlich findet es die Idee wohl nicht. Es gibt zum Beispiel im Arbeitsrecht bei Diskriminierungsvorwürfen die Beweislastumkehr, wenn eine Person Indizien dafür vorlegen kann, die eine Diskriminierung vermuten lassen. In dem Fall verschiebt sich die Beweislast zum Arbeitgeber, der nachweisen muss, dass keine Diskriminierung stattgefunden hat. Wenn das einzige Indiz in unserem Fall die vage Behauptung einer ethnischen Zugehörigkeit ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie das rechtsstaatlich aussehen soll.

Wieso kocht ein Thema wie die Kriminalität von Zugewanderten so oft auf, wie zuletzt beispielsweise die „Schwimmbaddebatte“?

Deutschland kann einfach nicht ohne. Ich habe auch echt nicht mehr so viel Lust darauf, über die Angst vor „dem Fremden“ zu sprechen. Man muss auch immer die Augen offenhalten, wo gerade Wahlen anstehen. Wie intensiv konzentrieren sich die Medien auf ein Thema? Soziale Medien spielen eine Rolle. Da wird eigentlich immer verlangt, über die Herkunft von Tätern zu sprechen. Ist es ein Deutscher, ist das Interesse des Publikums schnell weg. Ausländer bringen Klicks, Klicks bringen Geld, also bringt man Ausländer-Storys. Dieses Feindbild muss gepflegt und aufrechterhalten werden. Vielleicht ist all das, was ich sage, auch falsch, und es gibt einfach richtig viel Hass auf Migranten in diesem Land.

Für den Podcast »Clanland« und das Buch »Dakhil« haben Sie und Marcus Staiger mit vielen Menschen gesprochen, die aus arabischen Großfamilien stammen. Was haben Sie im Zuge der Recherche gelernt?

Wir haben viele Hintergrundgespräche geführt, und ich habe so viele Bücher gewälzt wie noch nie, Papers in allen Sprachen gelesen, die ich spreche, unzählige Stunden im Internet recherchiert und alles mit den Aussagen unserer Interviewpartner abgeglichen. Ich habe in den vier Jahren so viel über meine Kultur, meine Herkunft, die Politik meiner Heimat und die des Libanons gelernt. Ich verstehe viele Zusammenhänge jetzt besser und muss nicht mehr sagen: „Bei uns ist das so, bei uns war das immer so.” Außerdem habe ich gelernt, dass man Menschen, die sich nicht überzeugen lassen wollen, nicht überzeugen kann.

Wer in Deutschland einen nicht-westlichen Nachnamen hat, ist benachteiligt und wird oft rassistisch angefeindet, das dürfte allgemein bekannt sein. Wie unterscheidet sich die Situation, wenn man den Nachnamen eines bekannten Clans hat? Macht das einen Unterschied?

Es macht einen riesigen Unterschied. Wir bekommen nämlich auch Diskriminierung aus der migrantischen Ecke. Alle finden es doof, diskriminiert und stigmatisiert zu werden, aber bei Clanmitgliedern können sie es schon irgendwie verstehen. Oder sie geben uns gleich die Schuld daran, dass sie von „den Deutschen“ gehasst werden. Es gibt außerhalb der Familie wirklich nur ganz wenige Räume, in die man sich zurückziehen kann, ohne sich ständig für die eigene Existenz rechtfertigen zu müssen. Bekommt ein Migrant aufgrund seines Namens keine Wohnung, ist das unfair und rassistisch. Ein Unding. Bekommt ein Migrant aus einem Clan aufgrund seines Namens keine Wohnung, können das auf einmal auch diejenigen verstehen, die nicht wegen ihres Namens und ihrer Herkunft diskriminiert werden möchten. Das gilt ebenso für Polizeigewalt bis hin zu Abschiebungen ganzer Familien.

Wenn Sie Nancy Faeser und anderen Politiker*innen etwas sagen könnten, was wäre das?

Ich würde Ihnen sagen: Eure Aussagen kosten Leben. Eure Politik kostet Leben. Egal, ob es Eure Flüchtlingspolitik ist oder die Politik, die Ihr gegen unsere Familien macht. Ihr habt Eure Finger mit am Abzug, wenn so etwas wie Hanau noch einmal passiert. Denn neben der Presse seid Ihr mitverantwortlich für die Stimmung und den Hass gegen uns. Ich weiß nicht, ob Ihr aus Überzeugung handelt oder aus Angst, Stimmen an Rechtspopulisten zu verlieren. Wenn Ihr ein Problem damit habt, mit ihnen verwechselt zu werden, solltet Ihr Euren Kurs dringend ändern. Ihr solltet mit uns sprechen. Das wäre weitaus fruchtbarer als uns zu bekämpfen, als wären wir Feinde eines Staates, der uns und unsere Eltern aufgenommen hat. Unsere Community hat ihre Probleme, aber wir haben auch junge Menschen mit Zielen, genau wie unsere Eltern Ziele hatten, denen Ihr jede Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt habt.

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