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In Deutschland droht der Pflegenotstand

Sozialbündnis aus Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden fordert Umbau der Pflegeversicherung

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

»Pflegebedürftigkeit entwickelt sich immer mehr zur Armutsfalle.« An dieser Aussage von Ulrich Schneider, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, gibt es nichts zu deuteln. Gemeinsam mit Silvia Bühler vom Verdi-Bundesvorstand und Manfred Stegger, Vorsitzender des Biva-Pflegeschutzbundes, stellte Schneider am Donnerstag in Berlin die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage vor, die das Forsa-Institut im Auftrag des Bündnisses für eine solidarische Pflegevollversicherung erstellt hatte. Derzeit müssen Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Aufenthalts in einer stationären Pflegeeinrichtung im Durchschnitt einen Eigenanteil von rund 2700 Euro für Pflege- und Unterbringungskosten aufbringen. Das sei für die meisten Menschen nicht zu stemmen, so Schneider. Bei der Umfrage sei auch deutlich geworden, dass besonders jüngere Menschen die zu erwartenden Kosten im Pflegefall deutlich unterschätzen. »Die meisten denken, dass der Sozialstaat sie schon irgendwie auffangen wird. Das tut er aber nicht«.

Aus der Umfrage geht ferner hervor, dass eine deutliche Mehrheit von 81 Prozent der Befragten den Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) zu einer Vollversicherung unterstützt, mit der alle pflegebedingten Kosten abgedeckt würden. Bemerkenswert dabei sei, dass es die hohen Zustimmungswerte mit relativ geringen Unterschieden unabhängig von der jeweiligen Parteipräferenz gebe, sagte Schneider. Das Modell der Vollversicherung ließe sich auch auf den ambulanten Pflegebereich übertragen, etwa durch die Verschreibung der entsprechenden Leistungen aus einem verbindlichen Katalog der GPV. Für die Finanzierung schlägt das Bündnis vor, die GPV in eine Bürgerversicherung umzubauen, in die dann auch Selbstständige, Beamte und weitere bislang ausgenommene Berufsgruppen einzahlen müssten. Zudem müssten alle Einkommensarten erfasst werden, also auch Kapitalerträge und Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung. Eine weitere Stellschraube wäre die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit knapp 5000 Euro brutto pro Monat auf das Niveau der Rentenversicherung (7300 Euro). Die dann noch bestehende Deckungslücke im voraussichtlich einstelligen oder niedrigen zweistelligen Milliardenbereich könnte mit einer Beitragssatzerhöhung um 0,2 Prozentpunkte und/oder einem höheren Steuerzuschuss für die GPV ausgeglichen werden. Eine klare Absage erteilt das Bündnis dagegen allen Plänen, die GPV durch eine privatwirtschaftliche Komponente zu »ergänzen«. Diese auch von der Bundesregierung verfolgten Pläne seien nichts weiter als die Zementierung einer »Zwei-Klassen-Versorgung«, und trügen deutlich die Handschrift der FDP, kritisierte Schneider, der in diesem Zusammenhang auch die Abschaffung der privaten Pflegeversicherung forderte.

Sylvia Bühler (Verdi) wies darauf hin, dass Verbesserungen bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen derzeit automatisch zu höheren Kosten für die Pflegebedürftigen führten, da viele Träger die Mehrkosten einfach umlegten und zugleich den Arbeitsdruck auf die Beschäftigten erhöhten. »Diese Logik muss durchbrochen werden«, forderte Bühler. Schon jetzt gebe es in der Pflege eine Personallücke von 36 Prozent und unter den gegebenen Bedingungen sei absehbar, dass diese Lücke angesichts des wachsenden Bedarfs beträchtlich wachsen werde. Dabei mangele es nicht generell an Pflegekräften, sondern »an Pflegekräften, die bereit sind, unter den herrschenden Bedingungen zu arbeiten«. So gebe es einen regelrechten Exodus vor allem aus privaten Pflegeeinrichtungen in Richtung Krankenhäuser, da die tariflichen Bedingungen dort wesentlich besser seien. Der Lohnunterschied beträgt laut Verdi im Durchschnitt 460 Euro pro Monat. Der Verdi-Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst beinhalte zwar keine Gehaltsunterschiede zwischen Kliniken und Pflegeeinrichtungen, doch er finde bei den meisten Trägern keine Anwendung, so Bühler. Und es sei »illusorisch«, bei allen nichtstaatlichen Einrichtungen entsprechende Haustarifverträge durchsetzen zu können. Notwendig sei vielmehr, den Pflegemindestlohn auf ein entsprechendes Niveau anzuheben. Auch dafür sei die Einführung einer Pflegevollversicherung unabdingbar.

Manfred Stegger vom Pflegeschutzbund bezeichnete es als »entwürdigend«, dass immer mehr pflegebedürftige Menschen in die Sozialhilfe gedrängt würden. Denn auch wer langjährig versichert gewesen sei und in bescheidenem Maße Vorsorge getroffen habe, müsse dann bald die Erfahrung machen, dass ihm für den persönlichen Bedarf nur noch ein staatlich festgelegtes Taschengeld zugestanden werde. Es häuften sich derzeit Fälle, dass die Pflege- und Unterbringungskosten pro Monat um 1000 Euro und mehr erhöht würden. Die Quote der pflegebedürftigen Sozialhilfeempfänger werde bald bei 40 Prozent und mehr liegen. Das Bündnis fordert von der Politik ein schnelles Umsteuern und einen fundamentalen Umbau der Pflegeversicherung. Dazu müsste der Druck allerdings erheblich erhöht werden, denn die derzeitige Bundesregierung macht keinerlei Anstalten, dem sich stetig verstärkenden Pflegenotstand wirklich etwas entgegenzusetzen.

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