Eingesessen und ausgesessen

Über den Stammtisch und seine Knotzer. Ruf. Verruf. Nachruf

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 15 Min.
Ein entwurzelter Stammtisch? Hauptsache, die Gemeinschaft bleibt geschlossen.
Ein entwurzelter Stammtisch? Hauptsache, die Gemeinschaft bleibt geschlossen.

Nicht jeder Besuch im Gasthaus ist der Rubrik des Stammtischs zuzuordnen. Man kann essen gehen, man kann Zeitung lesen, einfach herumhängen, sich betrinken, man kann Karten oder Schach spielen, man kann sich mit Freunden und Bekannten treffen, Geschäftstermine oder Verabredungen wahrnehmen. Der Stammtisch verspricht hingegen etwas Besonderes. Bereits die erste Deutung des Wortes legt dies offen. Stamm! Da stamme ich ab, da gehöre ich hin, da will ich nicht weg! Es dominiert ein affines und rituelles Verhältnis zu den eigenen Bedingungen und ein abwehrende Haltung gegenüber allem Ungewohnten, Fremden und Neuen. Tisch! Da sitze ich gern, da sitzen die Kumpels, da sitzen wir, also wir! Am Stammtisch sind Herkunft und Zukunft an die Tischbeine gekettet. So einander verbunden, ist Stallgeruch die logische Konsequenz. In der Regel sitzen am Stammtisch Stammgäste. Es geht um die Kontinuität der dort Eingesessenen.

Stamm und Tisch

Stamm und Tisch suggerieren die sitzengebliebene Einheit der sich gegenseitig zur Kenntnis gebrachten Gehörigkeiten. Man hört sich nicht nur zu, gehörig meint weiters sowohl zugehörig als auch gefällig. Man gehört also zusammen und es gehört sich auch so. Zusammengehörige hören Zusammengehöriges. Der Stammtisch versteht sich als Bollwerk des Soseins gegen das Anderssein. Man labt sich an Selbstvergewisserungen, und zwar nicht nur an affirmativen, sondern an überaffirmativen. Konservativ bis reaktionär ist des Stammtischs Grundhaltung. Da er abwehren will, und noch dazu suggeriert, immer wieder zu verlieren, ist die Enttäuschung stets zugegen, schreit »das Handfeste« nach griffigen Händen, nach Ordnung, nach Machern, die da endlich reinen Tisch machen. So hätte er es gern. Das Gehörige meint daher auch, ungehörig sein zu müssen.

Sitzengebliebene erheben sich zur ideellen Tat. Gerne würden sie was anstellen. Geschickt stellen sie sich freilich nicht an. Die Verschworenen sind keine Verschwörer. Der Rat, der die Tat beflügeln soll, säuft oft schon im dritten Getränk ab, und das ist auch gut so. Knotzer bleiben knotzen. Wenn sie aufstehen, ist kein Aufstand in Sicht, da gehen sie dann bloß heim. Knotzen ist übrigens mehr als ein Synonym für sitzen. Knotzen bedeutet auch ein beharrliches Hängenbleiben, ein Nicht-Aufstehen-Wollen. Wenn man knotzt, hat man nicht einfach Platz genommen, man setzt sich nicht nur nieder, man will und wird hocken bleiben. Die Platzeinnahme ist ausdrückliches Bekenntnis, nicht zufälliges Ereignis. Noch deutlicher wird das, wenn wir vom Verb zum Substantiv wechseln. Hauptwörtlich gebraucht definieren sich Knotzer nicht bloß als Sitzer (auch wenn sie gelegentlich einen sitzen haben). Sie möchten außerdem auch bedient und bewirtet werden, was ihre Aufstehschwierigkeiten zusätzlich fördert. Meist haben wir es hier mit Männern zu tun, die nicht nach Hause gehen wollen. Zumindest nicht gleich oder bald, sondern später. Das Kommen fällt stets leichter als das Gehen.

Am Stammtisch geht es um das Wiederherstellen des mentalen Gleichgewichts der dort versammelten Exponate. Sie stellen sich nicht in Frage, sie bringen sich in Stellung und versichern sich der Antwort. Es geht um Bestätigung und Übertragung geläufigen Unbehagens, das sich meist wie hurtig zu Vorurteilen und Ressentiments verdichtet. Das ist kein Zufall, sondern essenziell prädestiniert. Stoff dafür ist ein Rohstoff, der roh bleibt, weil er nicht wirklich verarbeitet wird. Das Unbehagen, das wir hier nicht disqualifizieren wollen, folgt einem Nicht-zurecht-Kommen, das sich als einfacher Widerspruch manifestiert.

Stamm meint anhalten können, Tisch meint, dabei zu sein. Der Stammtisch ist eine biologisch-ideologische Rückversicherung. Da nicht nur ich so denke, kann nicht dumm sein, was ich meine. Das ist eine bestechende, um nicht zu sagen bestochene Logik. Analytische Askese ist hingegen strukturell. Es ist nicht der Versuch zu verstehen, es herrscht die trotzige Ansicht, schon immer alles verstanden zu haben. Und daher weiß man auch alles besser. Theorie ist verpönt. Eine Atmosphäre des Soseins und eben nicht anders, weder anders wollen noch anders können, prägt diese Zusammenkunft. Der banale Gedanke, dass das Dasein kein Sosein sein muss, er fehlt völlig. Und so er nicht fehlt, ängstigt er. Das eingeengte Repertoire, die stets gleiche Choreografie und Phraseologie, die Endlosschleifen der Konvention folgen einem ehernen Ritual. Heute könnte gestern gewesen sein und morgen wird es nicht anders sein.

Der Stammtisch ist ein Der-Der. Der Stamm. Der Tisch. Der Stammtisch ist als gemeinsamer Tisch der männlich-bestimmten Abstammungsgemeinschaft zu entziffern. Der Stammtisch ist ein Ort projektierter Überheblichkeit und produzierter Überlegenheit maskulinistischer Selbstbestätigung. Eine Instanz des Absicherns ideeller Herrschaft imaginierter Herren. Es ist schwer, dort aus der Rolle zu fallen, weil nur eine Rolle vorgesehen ist, die der gegenseitigen Ratifizierung. Es ist eine fetischistische Zeremonie der Stoßgebete an einem religiösen, also verzauberten Ort. Ritualisiertes Reden in Rotation. Da wird weniger diskutiert als proklamiert und deklamiert. Man weiß Bescheid. »Ich sag dir...« – das serielle Gerücht wird geradezu hochgezüchtet und heiß gekocht. Man will nicht über sich hinausgehen, man will unter sich bleiben. »Unter uns gesagt« begeben sie sich tatsächlich »unter sich«. »Über uns« wird dort abseits der Charaktermasken nicht gesprochen, aber für dieses »unter uns gesagt« ist das auch gar nicht nötig, es verweist vielmehr auf eine eherne Gemeinschaft von Verschworenen. »Wir«, das sind nicht Individuen, sondern Exponate eines sich gleichschaltenden Typs. Eine Art ideeller Reservearmee von Herrschaft und Konvention. Das Unten ist das Unten des Oben.

Der Stammtisch neigt zur einfachen Losung wie zur einfachen Lösung. Daher wird schnell und scharf geschossen. Die männliche Instanz setzt auf Entladung, nicht auf Entwicklung. Es ist der (real wie irreal) zu kurz gekommene Männerbund, der als lose Bande dort zu sich kommt, indem er außer sich gerät, aber dann doch hocken bleibt. So ein richtiges Racket wird er nicht. Typische Floskeln sind: »Ich hab's immer schon g'sagt.«, »Das sieht ja ein Blinder!«, »Das weiß doch jeder!«, »Eh klar!«, »Ganz genau!«, »Völlig richtig!«. Neuerdings auch »Kein Thema!«. Im Ausrufezeichen ist er in seinem Element. Das Narrativ erscheint als Imperativ. Doch dieser illustriert nur die Schwächen, er ist Bluff, verliert sich regelmäßig in Angeberei. Gemeinsames Halluzinieren entfaltet sich. Zu den Stammtischen sind die Männer aus ihren Familien geflohen. Zumindest für eine Auszeit. Sie sind den Anforderungen und Verbindlichkeiten entronnen, können für wenige Stunden der Unverbindlichkeit frönen und sich ihre Überzeugungen durch Überredungen bestätigen lassen. Aussagen werden mächtig, wenn sie nicht nur ins Gerede kommen, sondern zum Gerede werden. Man erkennt das an der Kumulation gängiger Phrasen. An den Tischen wird ein Jargon des Soseins gepflegt. Es ist keine Sprache, die sich sucht, es ist ein Spruch, der sich immer wieder findet. Je gängiger, desto eingängiger. Angebetet wie angeboten werden Versatzstücke bürgerlicher Essenzialien. Der Stammtisch ist der ausgelagerte Stammsitz der kleinen Männer, eine Burg für Bürger oder besser noch eine kleine Burg für Kleinbürger. Es herrscht ein ungeschriebenes Statut, es hat sich eingesessen und eingebürgert.

Während Frauen zu Hause wirklich aufräumen, träumen Männer oft vom großen Aufräumen da draußen. Was selbst traditionell sich unterordnende Frauen mächtig ärgert, das sind die vielfach herausgenommenen Überzeiten. Da hat sie nicht nur gekocht, geputzt und vorgesorgt, und dann erscheint der Typ nicht einmal pünktlich zum Essen. Der überzogene Frühschoppen verdirbt so manchmal die Laune des Familiensonntags, sintemal da wieder einer knotzen geblieben ist. Zusätzlich zur selbstverständlichen Zuweisung der Rolle folgt auch noch deren Missachtung. Solch Verhalten ist doppelt degradierend.

Informell und implizit

Stammtische stehen zumeist nicht in Hinterzimmern, sie stehen in den Gaststätten an gesondertem, aber nicht abgesondertem Platz. Was dort gesprochen wird, kann, ja soll auch über den Tisch hinweg gehört werden. Das Unter-Sich-Sein hat nichts Geheimnisvolles. »Wir haben nichts zu verbergen«, könnte ein Motto sein. Über den Stammtisch hinaus agieren die Beteiligten aber nicht als Gruppe. Sie sind kein Verein und auch keine Vereinsmeier. Deren Tische stehen auch eher in separierten Räumen. Am Stammtisch sitzt keine Masse, sondern bloß eine Gruppe mit begrenzter Teilnehmerzahl und Haftung. Die Größe des jeweiligen Tischs ist entscheidend. Stammtische sind auch nicht als Stammtische vernetzt. Für die Leute, die da sitzen, behauptet der Begriff Freunde zu viel und der Begriff Friends zu wenig. Die Knotzer sind eher Kumpels, die sich kennen, bessere Bekannte, Haberer.

Der Stammtisch ist halböffentlich und halbprivat. Diese hybride Zwischensphäre ist für dieses seltsame Medium durchaus eine seiner Spezifitäten. Obwohl nicht wirklich öffentlich, stellt er doch seinen öffentlichen Anspruch zur Schau. Zumindest will er zur Kenntnis genommen werden, verlangt nach Aufmerksamkeit und erheischt Interesse. Er ist also nicht mit einem privaten Kellerstüberl zu verwechseln, er ist auch nicht klandestin oder konspirativ im eigentlichen Sinne, man möchte gesehen werden und auffallen, aber alles dosiert. Auch wenn blöd geredet wird, strebt er nicht die Weltherrschaft an, er ist eher provinziell als imperialistisch. Weitgehender Konsens besteht darin, dass die Anderen draußen bleiben sollen. Doch selbst die grassierende Ausländerfeindlichkeit ist mehr latent als potent. Ganz allgemein gilt: Er ist weniger ernst, als er redet. Darin liegt einer seiner Vorzüge, auch wenn die Teilnehmer wohl auf solch ein Kompliment dankend verzichten würden.

Der Stammtisch ist eine affirmative Instanz, die nie zufrieden ist. Er ist dagegen, weil er dafür ist. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von der Kritik, die dagegen ist, weil sie dagegen ist. Der Stammtisch ist zufrieden und unzufrieden in einem. Zufrieden ist er, weil er sich seiner Gewissheiten sicher ist. Unzufrieden ist er, weil er feststellt, dass die Welt partout nicht so spurt und tickt wie die Knotzer meinen, sie sich vorstellen zu müssen. Aus diesem Zwiespalt schöpft der Stammtisch seine Motivation. Energie entsteht durch wechselseitiges Aufladen der Teilnehmer. Man ist nicht alleine, sondern Teil, besser noch: geladenes Teilchen. Das fühlt sich auch besser an, mindert die persönliche Verlorenheit.

Der Stammtisch ist eine Instanz, aber keine Institution. Am Stammtisch sitzen gemeinhin meist Stammgäste. Zaungäste sind selten. Es herrscht eine geringe Fluktuation, die Zusammensetzung bleibt weitgehend konstant, weist nur eine zähe Dynamik auf. Termine werden nicht fixiert, sind aber relativ fix. Sie werden selten ausgemacht, sie ergeben sich. Man weiß Bescheid, ohne dass eine ausdrückliche Einladung erfolgt. Der Stammtisch offenbart sich als implizites und informelles Treffen, es wurde nicht verabredet, aber doch wissen alle, wann er zusammentritt. »Bis zum nächsten Mal…« Sitzungen sind zwar nicht formell, sie folgen aber einem ritualisierten Programm. Sie kennen keine Tagesordnung und sie haben auch keine Regeln und Beschränkungen. Sie sind uferlos, aber sie kommen doch immer wieder auf dasselbe zu sprechen.

Es ist eine in sich geschlossene Gemeinschaft, was bedeutet: Man kann nur dabei sein oder draußen sein. Vorbestimmung determiniert das Geschehen. Informell und implizit bedeutet weiters: Es werden keine Beschlüsse gefasst, keine Resolutionen erstellt, keine Verträge unterfertigt, ja nicht einmal Abmachungen getroffen, geschweige denn Verschwörungen angezettelt. Niemand wird sagen: »Das haben wir am Stammtisch ausgemacht.« Solange die Stimmung so ist, bedarf es keiner Abstimmung. Als Konventionsüberprüfungsstätten sind Stammtische Proberäume gegenseitiger Einstimmung. Es gilt diese bis hin zur Übereinstimmung zu steigern, aber auch wenn man gelegentlich scheitert, ist das kein Malheur. Kleinere Differenzen am Tisch sind symptomatisch, ohne sie würde Kommunikation erst gar nicht in die Gänge kommen. Der Stammtisch ist ein Komparativ des Gewöhnlichen. Die Getriebenen werden synchronisiert. Doch auch hier muss man wieder einschränken: Drill und Disziplin bestimmen die Verständigung keineswegs. Die Sozialisierung am Stammtisch verläuft meistens amikal, es herrscht weder strenge Zucht noch soldatische Pflicht. Man sitzt nicht stramm und man folgt auch keinen Befehlen. Gedacht wird autoritär, einander begegnet wird recht locker. Nicht zum Stammtisch wird gesprochen, sondern am. Die Beisitzer oder Knotzer reden miteinander. Sie lauschen (trotz mancher Unterschiede) nicht der Rede eines Vorsitzenden oder eines Vorbeters. Sie wollen bestätigt, nicht kommandiert werden. Die Hierarchie der Teilnehmer wird während jeder Séance noch zusätzlich eingeebnet. Soziales Gefälle wird kurzfristig sistiert, wobei größere Diskrepanzen sowieso eher selten anzutreffen sind.

Der Stammtisch wird also nicht einberufen. Man geht hin, wenn man will und man geht nach Hause, wenn man möchte. Und wenn man nicht oder nimmer will, geht man erst gar nicht hin. Das Herrschaftliche wird dort zwar nicht administriert, aber dem Herrschaftlichen wird folgenreich ministriert. Permanent. Zustimmung ergibt sich aus der informellen Geselligkeit, nicht aus einer formalisierten Struktur. Zweifellos fühlt man sich freier, da man die Zumutungen kaum spürt. Man ist sozusagen im Reservat.

Tisch und Netz

Stammtische sind Bestandteil der analogen Welt. Sie mögen seriell aufgestellt sein, aber sie sind nicht als solche vernetzt, geschweige denn können sie sich retweeten. Der Stammtisch bleibt in seinem Raum gefangen, er tagt auch nicht in Permanenz und er ist angewiesen auf ein physisches Gegenüber. Die Botschaften treffen sich nicht ohne die Menschen, die zu ihnen gehören. Haben einst alle vom Stammtisch gesprochen, wird diese Rede nun seltener. Die täglichen Erfordernisse des Erwerbslebens und des Konsums, inklusive der von der Kulturindustrie bestimmten Freizeit, erlauben kaum, sich diese Auszeit zu nehmen, ja sie sich überhaupt genehmigen zu können. Die Hochblüte der Stammtische ist vorbei. Die Knotzerei dauert einfach zu lange. Diesem Trend postmoderner Hurtigkeit Rechnung tragend, ist vor allem an den Theken der Tankstellencafés aus dem Knotzen ein Hocken, ja Stehen geworden. Diese könnte man durchaus als Rückzugsgebiete zweiter Ordnung begreifen.

Das Prinzip »Gach geht gar nix« ist im Niedergang. Wo alles flott zu sein hat, alles prompt zu erledigen ist, wirken solch behäbige Treffen zusehends anachronistisch. Träger Trott ist Schrott von gestern. Nicht ausgeschlossen, dass es nicht mehr lange dauert, bis es sich ausgesessen hat für die Eingesessenen. Die Terminkalender lassen das nicht zu. Das Tempo der neuen Zeiten zerstört Gemächlichkeit und Gemütlichkeit, sie sind an den Stammtischen immer weniger praktizierbar, sieht man vielleicht von den Pensionisten ab. Doch auch die befinden sich zunehmend in einem Unruhestand. Außerdem steigt die Gefahr, dass man sich etwas holt. Der direkte Kontakt ist in Verruf gekommen, nicht erst seit Corona. Digital ist alles sicherer.

In ihrer Gesamtschau besaßen Stammtische eine informelle Wucht, aber kein formelles Gewicht. Im Netz jedoch geraten das Informelle und das Formelle, das Private und das Öffentliche völlig durcheinander. Als getrennte Einheiten sind sie kaum noch wahrzunehmen. Die Bedeutung des Stammtischs ist durch das Überhandnehmen und die Ausstülpungen des Internets mittlerweile entschieden zu relativieren. So wenig Stammtisch war noch nie. Und er wird auch nie wieder so ins Laufen kommen. Die Pandemie beschleunigte die Erosion. Die Hochstimmung ist verflogen. Der Ruf gerät als Verruf zum Nachruf und erhält so ungewollt eine fast wehmütige Note. Der Stammtisch steht in einem behüteten Bereich, im Netz hingegen sind alle Flanken offen. Inklusive Arsch. Die digitale Okkupation ist viel umfassender. An allen Ecken und Enden poppt es auf, kein Raum, kein Zusammenhang, der dem entgehen kann. Es marschiert ein, sobald der Rechner läuft oder das Mobiltelefon läutet. Stets ist man zugegen. Wo man auch weilt, die Botschaften sind an allen Orten zu empfangen. Man kommt nicht aus. »Ich bin nicht erreichbar!« war schon gestern ein lächerlicher Satz von vorgestern. »Ich bin mal weg!« wird zusehends unmöglich. Und selbstverständlich hat man nicht nur zu empfangen, sondern auch zu senden. Des Bürgers Recht ist des Bürgers Pflicht!

Der Stammtisch braucht eine Stätte, meist eine Gaststätte. Das Internet benötigt keine solche Stätte mehr, weil es invasiv in alle Räume eingedrungen ist und überall intensiv genutzt wird. Wenn es denn doch eine Stätte ist, dann eine Richtstätte, nicht nur weil Videos von Köpfungen und Todessprüngen ins Web gestellt werden. Das Virtuelle eröffnet eine zweite, ganz eigene Matrix, dort braucht man sich gar nicht mehr körperlich zu konfrontieren. Zum Stammtisch muss man noch hingehen, sich aufraffen. Um ans Handy oder ins Netz zu gelangen, bedarf es keines reellen Ortswechsels. Man schaltet ein, ist angeschlossen und dabei. Beim Mobiltelefon muss man nicht einmal einschalten, um eingeschaltet zu sein. Man wird eingeschaltet. Es läutet und summt, es klingelt und piepst. Schon ist man parat, steht »Habt Acht!«.

Der Stammtisch ist ein besonderer, beinahe antiquierter Ort, das Netz dagegen verströmt kosmopolitische Universalität. Es ist raumübergreifend, aber raumlos, weil überall. Man ist zwar nicht überall, aber man ist allerorts erreichbar. Unspezifische Ortlosigkeit bedeutet: Punkte werden von Netzen abgelöst. Das Dasein schlägt seltsame Kapriolen. Um uns zu treffen, benötigen wir keinen Ort mehr, verfügen wir bloß über die entsprechenden Geräte und Programme. Nicht nur Präsenz wird obsolet, auch Absenz wird nicht geduldet. Man hat da zu sein und gleichzeitig dort zu sein, und man hat dort zu sein, ohne fort zu sein. Man muss nicht da sein, aber trotzdem zugegen. Da geht zusammen, was sich früher ausgeschlossen hat. Das Virtuelle wird zum Modus der Welt, das Reelle gerät in eine museale Sonderzone. Auch hier beschleunigt das aktuelle Virus und seine absehbaren Nachfolger diese Tendenz. Das Besondere und das Allgemeine tauschen Platz.

Am Stammtisch wird jeder Unsinn dosiert, weil faschiert. Anders im Netz: Da geht er ungefiltert auf Sendung. Der Stammtisch mag zwar nicht vertrauenseinflößend sein, aber er ist doch in sich wie nach außen halbwegs vertraulich. Somit auch aufgrund der Portionierung verdaulich. Die Kolportage mag anmaßend sein, sie ist aber nicht vermessen. Ihre Inputs hängen an kleinen Glocken, und die oft sich widersprechenden Gerüchte bringen manchmal mehr durcheinander als auf Linie. Getätigte Aussagen sind nicht nur verschwommen, sie verschwimmen auch. Am Stammtisch dominiert außerdem ein versöhnlerischer Hang zum Konsens, nicht ein eherner Zwang zum Schlag, wie es die Hits (nomen est omen!) im Netz erfordern. Das Verhältnis der Knotzer zueinander ist freundlich, lässig bis schlampig, nicht cool und straight. Der reelle Knotzer ist kein virtueller Killer.

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