Tag der Verschwundenen: 50 Jahre Verlust und Suche

In der deutsch-chilenischen Sektensiedlung Colonia Dignidad sind Dutzende Menschen bis heute verschwunden

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 6 Min.
Die als »Funa« bezeichnete Kundgebung informiert in Krefeld darüber, wer Hartmut Hopp ist.
Die als »Funa« bezeichnete Kundgebung informiert in Krefeld darüber, wer Hartmut Hopp ist.

»Dónde están?« – »Wo sind sie?«, steht auf den Fotos seines Vaters und seines Bruders, die Juan Rojas-Vásquez am 26. August bei einer Kundgebung im nordrhein-westfälischen Krefeld-Oppum um den Hals trägt. Denn beide sind gewaltsam Verschwundene. »Heute stehe ich hier, weil ich nicht sterben möchte, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen ist«, sagt der 64-jährige Deutsch-Chilene und bringt damit seine 50 Jahre andauernde Geschichte von Verlust und Suche nach seinen verschwundenen Angehörigen in den beschaulichen Wohnbezirk am Niederrhein.

Sein Bruder Gilberto und sein Vater Miguel wurden am 13. Oktober 1973 in Chile verhaftet und vermutlich in der Colonia Dignidad ermordet. Jene 1961 von Paul Schäfer in Chile gegründete deutsche Sektensiedlung, in der viele Bewohner*innen sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit unterworfen waren, kooperierte während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) eng mit dem Geheimdienst Dina, der dort ein Gefangenenlager einrichtete, Oppositionelle folterte und ermordete. Eine der zentralen Figuren der Colonia Dignidad war Hartmut Hopp. Der frühere Arzt und Leiter des siedlungseigenen Krankenhauses unterhielt gute Verbindungen zu den Spitzen der Militärjunta und zur Dina. Seit 2011 lebt er unbehelligt in Krefeld und seit Kurzem im Ortsteil Oppum.

Die Kundgebung findet direkt vor dem Haus statt, in dem der 79-Jährige wohnt, ein dreistöckiges Backsteingebäude zwischen Einfamilienhäusern mit Vorgärten und neben einem Seniorenheim gelegen. Etwa 50 Demonstrierende halten Fotos von Miguel und Gilberto Rojas und von weiteren chilenischen Verschwundenen hoch, auf Transparenten fordern sie ein Ende der Straflosigkeit und Aufklärung der Verbrechen der deutschen Sektensiedlung. Juan Rojas-Vásquez ist sich sicher, dass Hopp weiß, was mit seinen Angehörigen geschehen ist und wendet sich direkt an ihn: »Ich bitte Sie von Herzen, sagen Sie die Wahrheit. Ich muss wissen, wie und wo meine Angehörigen gestorben sind, damit ich Abschied nehmen kann.«

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Hartmut Hopp taucht an diesem Samstagmittag nicht auf und er spricht auch nicht gerne über seine Geschichte. In Chile wurde er rechtskräftig zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch von Minderjährigen verurteilt. Er setzte sich jedoch 2011 nach Deutschland ab, lebt seitdem in Krefeld und entzog sich dadurch seiner Strafe. Deutschland liefert ihn wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht an Chile aus. 2018 lehnte die hiesige Justiz einen chilenischen Antrag ab, nach dem Hopp seine chilenische Haftstrafe in Deutschland absitzen sollte. 2019 stellte die deutsche Justiz schließlich auch eigenständige strafrechtliche Ermittlungen gegen Hopp wegen der Beteiligung am Mord beziehungsweise Verschwindenlassen von Gefangenen, Körperverletzung in Form von zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka und sexuellem Missbrauch ein.

Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf hatte Opfer der Colonia Dignidad bei Ermittlungen der deutschen Justiz gegen Hartmut Hopp vertreten. Sie kritisiert, in Deutschland herrsche faktische Straflosigkeit. Mehrere Täter flüchteten sich inzwischen in den »sicheren Hafen Deutschland«, um der chilenischen Justiz zu entgehen. Hierzulande habe die Justiz nie mit der nötigen Tiefe und Energie ermittelt. Insgesamt habe die deutsche Justiz vor den Verbrechen der Colonia Dignidad versagt und »nicht begriffen, in welcher Dimension diese stattgefunden haben«.

Zumindest ist die Nachbarschaft in Krefeld-Oppum nun durch die als »Funa« bezeichnete Kundgebung darüber informiert, wer Hartmut Hopp ist. »Solange es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Funa«, ist das Motto dieser in Chile geläufigen Protestform, mit der die Geschichte von straflos lebenden Tätern in ihrem Umfeld bekannt gemacht wird. »Dabei zieht man in Scharen und lautstark vor die Häuser der Täter und macht darauf aufmerksam, dass hier jemand lebt, der straffrei Verbrechen gegen die Menschheit zu verantworten hat«, erklärt die Menschenrechtsreferentin bei der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum, Bianca Schmolze. Ihre Initiative ist Teil des Bochumer Bündnisses Solidarität und Erinnerung, das sich rund um den 50. Jahrestag des Putsches in Chile gegründet hat und das auch die Kundgebung in Krefeld organisiert hat.

Bei der Kundgebung, die kurz vor dem Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens stattfindet, werden auch Flugblätter an Nachbar*innen verteilt, der eine oder die andere hört zu oder beobachtet das Geschehen aus dem Fenster. Von der Colonia Dignidad hätten sie natürlich schon viel gehört, sagen interessierte Anwohner*innen, die nicht namentlich genannt werden wollen, »aber es ist ja was anderes, wenn das hier so direkt vor der Tür ist«.

Für Bianca Schmolze geht es darum, auf vielfältige Weise deutlich zu machen, dass die Überlebenden nicht alleine dastehen, und für sie eine »Anerkennung des Erlittenen zu erreichen«.

Sie fordert auch, eine chilenisch-deutsche Wahrheitskommission zu einzusetzen, um zur Aufklärung der Verbrechen und Heilung der Betroffenen beizutragen. Denn das Verschwindenlassen von Personen trifft vor allem deren Angehörige. »Solange nicht klar ist, was das Schicksal der geliebten verschwundenen Person ist, dauert das Verbrechen an, es ist nicht abgeschlossen und die Suche nach den Verschwundenen geht weiter. Die Angehörigen werden diesen Kampf auch weiterführen, bis sie endlich erfahren, was mit ihren Geliebten passiert ist«, so Schmolze.

Die politische Aufarbeitung geht derweil nur sehr langsam voran. Die Regierungen Deutschlands und Chiles haben angesichts ihrer beidseitigen Verantwortung für das in der deutschen Sektensiedlung Geschehene zwar mehrfach erklärt auf dem Gelände der Ex Colonia Dignidad, der heutigen Villa Baviera, eine Gedenk- und Dokumentationsstätte errichten zu wollen, zuletzt im April 2023 im Rahmen der Sitzung ihrer bilateralen Gemischten Kommission zur Aufarbeitung in Berlin. Der deutsche Bundestag hatte dies bereits 2017 mit einem einstimmigen Beschluss zu Maßnahmen zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad gefordert. Ein von deutschen und chilenischen Expert*innen ausgearbeiteter Entwurf für einen Gedenk- und Dokumentationsort liegt seit 2021 bereits vor. Doch seit Jahren stockt dieser Prozess und die deutsche Siedlung ist vor allem als touristisches Ausflugsziel mit einem Hotel-Restaurant-Betrieb im bayerischen Stil bekannt, was für die Angehörigen der Verschwundenen sehr verletzend ist.

»Das Wichtigste ist jetzt, dass die chilenische Regierung die juristische Stiftung gründet, deren Aufgabe die Schaffung der Gedenkstätte ist«, sagt Renate Künast, Bundestagsabgeordnete der Grünen, und dahin, so fordert sie, müsse dann auch Geld aus Deutschland fließen.

Der Leiter der Abteilung für Menschenrechte im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual, erklärt, Chile sei noch dabei, die beste Form für dessen Umsetzung zu finden.

Geplant ist nach wie vor außerdem, so Pascual, Gedenktafeln an historischen Orten auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad anzubringen. Ein standardisierter Entwurf dafür liege vor und das chilenische Kulturministerium habe Gelder für die Anfertigung und das Anbringen dieser Tafeln eingeplant. Da es sich bei der Villa Baviera aber um Privatgelände handelt, sei eine ausdrückliche Genehmigung der Eigentümer nötig, um diese Tafeln anzubringen. Die habe die chilenische Regierung zwar bei der Leitung der inzwischen als Firmenholding strukturierten Villa Baviera beantragt, aber noch nicht erhalten.

Die nächste Sitzung der bilateralen Regierungskommission werde wahrscheinlich im November stattfinden, so Pascual. Wenn die deutsche und die chilenische Regierung in diesem Tempo weitermachen, stehen die Chancen schlecht, dass sie es in ihrer jeweiligen Regierungszeit schaffen, die Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte festzumachen. Den Angehörigen der Opfer, die immer älter werden und immer noch keinen Ort zum Trauern haben und keine Ruhe finden, wären sie es schuldig.

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