Therapiescheine für Arme

Olivier David über den Zusammenhang von sozialem Status und psychischen Erkrankungen

  • Olivier David
  • Lesedauer: 3 Min.

Was das Gespräch über psychische Erkrankungen angeht, glauben viele, dass unsere Gesellschaft progressiver da steht, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Während Komiker wie Kurt Krömer für das Sprechen und Schreiben über psychische Erkrankungen gefeiert werden, reagieren selbst Psychiater*innen komplett überrumpelt, wenn der Zusammenhang von sozialem Status und psychischen Erkrankungen zur Sprache kommt.

Durch mein erstes Buch, in dem ich genau diesen Zusammenhang thematisiere, kann ich von derlei Erfahrungen aus erster Hand berichten. Ähnlich überraschend, wie die Tatsache, dass Armutsbetroffene häufiger unter psychischen Störungsbildern leiden, ist für viele vermutlich auch, dass Arztbesuche, Vorsorgeuntersuchungen und Therapieplätze am seltensten von den Angehörigen der Unterklasse abgefragt werden.

Kein Wunder, neben der Erfahrung der Entfremdung, des sozialen Rückzugs und den objektiv wenigen Möglichkeiten, die eigene Freizeit mit kostenlosen Aktivitäten zu füllen, ist auch das Wissen darum, wie man sich einen Therapieplatz organisiert, ungleich verteilt. Hinzu kommt, dass Armutsbetroffene oftmals Schwierigkeiten haben, den Telefonmarathon zu absolvieren, den es braucht, um einen der wenigen Therapieplätze zu ergattern.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Denn es ist doch so: Die eine Therapeutin hat einmal die Woche ihre Sprechzeit. Wenn man anruft, ist sie im Urlaub, es ist besetzt oder es sind keine Plätze frei. Die Warteliste? Abgeschafft, zu viele Anfragen. Und so geht es weiter und weiter, von Therapeut zu Therapeutin. Im Durchschnitt warten Betroffene in Deutschland fünf Monate auf einen Therapieplatz.

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Hinzu kommt ein weiteres Problem: die Zeit. Menschen, die in Armut leben, denken in kürzeren Zyklen. Nicht, weil sie sich das so ausgesucht haben, sondern weil die akute Armutserfahrung es ihnen so diktiert. Im Hier und Jetzt warten dutzende Probleme, die gelöst werden wollen. Es müssen Angebote beim Discounter gefunden und die Lücken im Haushalt gestopft werden. Und zwar nicht übermorgen und schon gar nicht erst im kommenden Monat.

Fünf Monate zu warten, um ein Problem anzugehen (nicht um es zu lösen, die Lösung von Problemen in Therapien braucht oft Jahre), ist für Betroffene eine zu lange Zeitspanne. Was hier Abhilfe schaffen könnte, wäre eine Anerkennung des gesellschaftlichen Nachteils, wie wir ihn aus der Wohnungspolitik kennen: den Wohnberechtigungsschein. Ich schlage analog dazu den Therapieschein für Armutsbetroffene vor. Menschen, die Leistungen von Ämtern beziehen, könnten Aufklärungsgespräche erhalten, in denen ihnen die Möglichkeit des vereinfachten Zugangs zu einer Therapie erklärt wird. Mit dem Schein könnten dann Personengruppen, die neben den individuellen Problemlagen unter systemischem Stress (wie der Armut) leiden, bei der Suche nach einem Therapieplatz bevorzugt werden.

Dazu bräuchte es bundesweit hunderte Lotsen, die Menschen mit besonderem sozialen Bedarf bei der Suche nach freien Plätzen unterstützen. Die Lotsen würden in Ansprache mit ihren Klient*innen Anrufe übernehmen und könnten bei Bedarf auch konkreter helfen, beispielsweise dabei, regelmäßige Fahrten zum Therapieplatz zu organisieren. Systematische Benachteiligung, wie sie die Erfahrung von Armut darstellt, würde systematisch behandelt werden. Dazu gehört auch die Anerkennung des Fakts, dass sozialer Stress im Kapitalismus auf die Rücken der Schwächsten umgelagert, ja vergesellschaftet wird.

Man kann die Idee als reformistisch abtun, diese Art von Paternalismus gegenüber Menschen, die Hilfe benötigen, ist aber fehl am Platz. Warum also nicht diejenigen, die die Probleme in die Gesellschaft tragen, dazu zwingen, sich an der Beseitigung ebendieser Probleme zu beteiligen? Es wäre ein Anfang.

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