Berlin sucht nach Azubis: Speed-Dating mit Betrieben

Auf der Last-Minute-Messe wollen Berliner Unternehmen noch schnell ihre Ausbildungsstellen besetzen

Mira Rojahn lernt bei First Sensor den Beruf der Mikrotechnologin. Das macht ihr mehr Spaß als Schule.
Mira Rojahn lernt bei First Sensor den Beruf der Mikrotechnologin. Das macht ihr mehr Spaß als Schule.

Mira Rojahn steht vor einem mit Schaumstoff ausgekleidetem Köfferchen. Darin: funkelnde Sensoren, Mikro-Chips, die Herzen der Feintechnologie. Was nach futuristischem SciFi aussieht, entsteht durch Handwerk. Mikrotechnolog*innen setzen die Teile in Kleinstarbeit zusammen.

So wie Rojahn. Die 18-Jährige kommt in ihr drittes Ausbildungsjahr bei der Firma First Sensor AG. Auf der Arbeit trägt sie einen sogenannten Reinraumanzug, um in den sterilen Räumen die Sensoren nicht zu verunreinigen. »Das ist für Allergiker im Frühling sehr gut«, sagt sie und lacht. Am Mittwoch hat sie den weißen Overall gegen eine geblümte Bluse eingetauscht. Auf der Last-Minute-Ausbildungsbörse in Friedrichshain stellt sie ihren Betrieb vor und wirbt für einen wenig bekannten Beruf.

Berlin braucht Auszubildende. Schon seit einigen Jahren wächst die Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze in der Hauptstadt, was den Fachkräftemangel noch weiter befeuert. 2022 wurden nur 19 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen, die Gesamtanzahl Berliner Azubis hat sich in den vergangenen 15 Jahren halbiert.

Eine Gegenmaßnahme findet am Mittwoch in der Kosmos-Veranstaltungshalle an der Karl-Marx-Allee statt. Zum 13. Mal lädt die Bundesagentur für Arbeit zusammen mit der Handwerkskammer Berlin und der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin zu einer Ausbildungsmesse ein, die noch nach dem üblichen Ausbildungsbeginn Anfang September Betriebe und Interessenten zusammenbringen soll.

Rund 50 Unternehmen mit insgesamt 232 offenen Ausbildungsstellen in 55 unterschiedlichen Berufen haben in zwei großen Kreisen ihre Stände aufgestellt. Zwischen den Kreisen ziehen junge Menschen ihre Bahn, bleiben stehen, kommen ins Gespräch, schreiben ihre Kontaktdaten auf oder lassen sogar gleich ihren Lebenslauf da.

Für Nicole Kilian funktioniert das Konzept. Ihr Betrieb bietet die Ausbildung zur Mechatroniker*in für Kältetechnik an. Hier erlernt man den Neubau, Umbau und die Wartung von Kälte- und Klimaanlagen. »Dieser Beruf ist wie Goldstaub. Wir finden keine guten Leute, deshalb müssen wir selbst ausbilden«, sagt Kilian. Bis vor kurzem hätten sie Schwierigkeiten gehabt, Azubis zu finden. »Aber jetzt gehen wir auf diese Messen und haben letztes und auch dieses Jahr dadurch jeweils zwei Azubis gefunden.«

Auch Jasminka Salihefendic von der Volkssolidarität erzählt von einem erfolgreichen Vormittag. Von fünf freien Ausbildungsplätzen für Pflegekräfte habe sie fast alle besetzt. »Von den vielen Gesprächen, die ich heute geführt habe, sind mindestens vier tolle Kandidaten dabei.« Aber fänden Jugendliche tatsächlich Pflege und Soziale Arbeit attraktiv, wenn direkt daneben Betriebe aus dem Hightech-Sektor stünden, wird Salihefendic gefragt. »Wir arbeiten für Menschen von eins bis 107, von der Kita bis zum Hospiz. Das wird eine künstliche Intelligenz nie ersetzen können.« Das Menschliche und die Jobsicherheit würden junge Menschen anziehen.

So positiv die Bilanzen von ein paar Betrieben ausfallen, das ändert nichts an dem Gesamtbild: 8000 Schulabgänger*innen begannen im letzten Jahr keine Ausbildung, zugleich blieben 14 000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Für Katharina Schumann von der Berliner Handwerkskammer liegt die Ursache vor allem in der Haltung junger Menschen. »Jugendlichen wird eher gesagt, mach mal Abitur, Handwerk hat keine Zukunft.« Marian Schreiner von der IHK Berlin stimmt zu: »Es ist eine Frage des Images, dass viele erst mal Studium im Kopf haben.« Es wünscht sich deshalb mehr Informationsangebote an Schulen. »Die Pandemie war da ein klares Problem, weil Jugendliche weniger Gelegenheiten hatten, sich zu informieren.«

Aber schrecken nicht auch die Ausbildungsbedingungen junge Leute ab? Während Altersgenoss*innen reisen gehen oder sich in ein Alibi-Studium einschreiben, bedeutet eine Ausbildung schließlich eine 40-Stunden-Woche. »Wir merken, dass Jugendliche gerne noch ein Jahr nach der Schule etwas anderes machen wollen«, bestätigt Schumann. Auch das Eintrittsalter steige und liege mittlerweile bei durchschnittlich 22 Jahren. Eine Vier-Tage-Woche ließe sich mit der aktuellen Ausbildungsstruktur jedoch nicht vereinbaren.

Rojahn hat kein Problem mit den Ausbildungsbedingungen. »Mir war klar, ich will kein Abi machen, weil ich Schule einfach nicht mag. Ich wollte viel lieber arbeiten.« Jetzt als Azubi könne sie viel selbstständiger sein. »Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.« Doch sie weiß, dass sie eher die Ausnahme darstellt: Die meisten Zehntklässler*innen wüssten nicht, was sie arbeiten wollen und blieben deshalb lieber noch auf der Schule. »Es sollten viel mehr Angebote an die Schule kommen, um zu informieren«, findet Rojahn.

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