Ukraine: Der versperrte Weg nach Westen

Die Bundesregierung hofft auf eine Schwächung Russlands in der Ukraine, will Kiew aber nicht mit dem Nato- und EU-Beitritt belohnen

  • Ariel Tarnev
  • Lesedauer: 7 Min.

Die ukrainische Armee vermeldete in diesen Tagen kleine Gebietsgewinne an der Frontlinie in Saporischschja im Osten des Landes. Wie bedeutend diese tatsächlich sind, ist noch fraglich. Trotzdem frohlockte Nico Lange, früher Leiter des Auslandsbüros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew und heute Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz, im Interview mit tagesschau.de, dass das ukrainische Militär nach den Durchbrüchen der russischen Linien mehr Möglichkeiten habe und weiter in östliche und südliche Regionen vordringen könne. Diese hält Russland nach dem Überfall auf die Ukraine besetzt. Aber auch nach militärischen Erfolgen bleibt für Lange die Frage offen: »Wie viele Reserven hat die Ukraine dann noch, um aus diesen Durchbrüchen etwas zu machen?«

Die Aussagen von Lange stehen stellvertretend für die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Äußerungen von Politikern aus den Regierungsparteien und aus der Union sowie von Vertretern Nato-naher Thinktanks, die meinen, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen könne, wenn sie nur mehr Ressourcen, also Kriegsgerät und Soldaten, zur Verfügung hätte. In der Bundespolitik wird zurzeit über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern diskutiert. FDP-Militärpolitikerin Agnes Strack-Zimmermann und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatten erklärt, dass sie diese gerne in den Händen des ukrainischen Militärs sehen würden. Die Entscheidung von Kanzler Olaf Scholz, der in solchen Fällen erklärt, sich vorher mit seinen internationalen Verbündeten zu beraten, steht noch aus.

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Nicht auszuschließen ist auch, dass die Bundesregierung, ebenso wie weitere EU-Staaten, der Forderung der Kiewer Regierung nachkommt, Militärdienstpflichtige, die aus der Ukraine geflohen sind, zur Rückkehr in ihr Heimatland zu zwingen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte kürzlich angekündigt, Auslieferungsanträge zu stellen, um die geflohenen Ukrainer zu rekrutieren. Die Bundesregierung sieht darin offensichtlich kein Problem und teilte mit, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine weiterhin bestehe. Dass dieses Recht nur auf dem Papier existiert, wird von den verantwortlichen Politikern in Berlin bislang ignoriert.

Kurzfristige Kriegsziele erreicht

Anders als in den USA wird in der öffentlichen Debatte in Deutschland selten thematisiert, welche langfristige Strategie mit den unterstützenden Maßnahmen für Selenskyjs Militär, darunter milliardenschwere Ausrüstungs- und Waffenlieferungen, verfolgt wird. Zu Beginn des Krieges ging es darum, Stärke gegen Russland zu zeigen und zu verhindern, dass Kiew erobert, Selenskyj gestürzt und durch einen neuen Präsidenten ersetzt wird, der eine Politik verfolgt, die im Sinne Moskaus ist. Diese Ziele haben die Bundesrepublik und ihre Verbündeten erreicht.

Analysen von Denkfabriken aus dem Umfeld der Bundesregierung legen nahe, dass den deutschen Regierungspolitikern daran gelegen ist, dass der Krieg noch eine Zeitlang fortgesetzt wird, anstatt sich für Friedensverhandlungen mit Russland einzusetzen. Die würden zum jetzigen Zeitpunkt wohl damit enden, dass Moskau sich endgültig und völkerrechtswidrig Teile der Ukraine einverleibt.

Die Politikwissenschaftlerinnen Claudia Major und Margarete Klein halten es für unwahrscheinlich, dass Russland unter seiner derzeitigen Führung die Maximalziele, also die vollständige Unterwerfung der Ukraine, aufgeben würde. »Solange die russische Führung an ihrem neoimperialen und aggressiven Ansatz festhält, droht ein erneuter Angriff«, schrieben Major und Klein vor wenigen Wochen in einem Aufsatz für die Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung berät.

Den einzigen Ausweg sehen die beiden Politikwissenschaftlerinnen in einer dauerhaften Schwächung des russischen Militärs und in einem Austausch an der Staatsspitze. Major und Klein hoffen gar auf eine »Demilitarisierung Russlands«. Dazu wäre aus ihrer Sicht »eine Reduzierung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie auf ein Maß nötig, das Selbstverteidigung gestattet, aber keine Offensivoperationen«. Voraussetzungen hierfür wären »eine eindeutige Niederlage gegen die Ukraine« und ein »Regimewechsel«, also das Ende der Präsidentschaft von Wladimir Putin, so Major und Klein.

In naher Zukunft ist das nur Wunschdenken, das sich aber auch in den Köpfen von deutschen Politikern festgesetzt hat. Weder das Machtgefüge in Moskau noch die Situation an den Fronten in der Ukraine geben aber für Außenstehende einen klaren Einblick, der die Voraussetzung für eine realistische Prognose ist. Nichtsdestotrotz ist das militärische Engagement der Ukraine gegen Russland in Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten sehr populär.

Die EU und die Ukraine

Die ukrainische Regierung fordert nicht nur Unterstützung aus dem Westen ein, sondern will in die Strukturen von EU und Nato integriert werden. Diese Forderungen werden seit 2014 regelmäßig erhoben. Zuvor hatten mit Viktor Janukowitschs Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei die Kräfte die Oberhand, die eine Nähe zu Russland pflegten und nach den Maidan-Demonstrationen und Unruhen vor bald zehn Jahren gestürzt wurden.

Die Meinung der Bevölkerung zum Westen blieb nach diesem Umsturz geteilt. Im Jahr 2019 sprachen sich in einer Umfrage nur knapp 50 Prozent der Ukrainer für einen Nato-Beitritt aus, wobei bedacht werden muss, dass viele Gegner eines Beitritts auf der 2014 von Russland annektierten Krim leben und nicht an der Umfrage teilnahmen.

Die Voraussetzungen haben sich in den vergangenen Monaten geändert. Selenskyj kämpft um den Nato-Beitritt und in den von Kiew kontrollierten Teilen des Landes gibt es seit 2022 eine eindeutige Mehrheit, die auch aufgrund der anhaltenden russischen Angriffe eine Aufnahme in den Militärpakt wünscht.

Doch ein solcher Schritt würde für die Nato-Staaten die Gefahr einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Russland zur Folge haben. Dieses Risiko wollen sie nicht eingehen. Deswegen wurde auf dem Nato-Gipfel im Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine formelle Einladung der Ukraine in die Nato an Bedingungen geknüpft, wie etwa Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors. Ein klarer Zeitplan existiert nicht.

Diese Taktik des Hinhaltens steht in der Tradition der Politik der früheren Kanzlerin Angela Merkel, die beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest mit französischer Unterstützung und gegen den Willen der USA einen schnellen Beitritt der Ukraine zum Nordatlantikpakt verhinderte. Der Grund für diese Entscheidung war schon damals, dass Deutschland nicht direkt militärisch für die Ukraine einstehen wollte.

Das Land sollte vielmehr im Interesse des deutschen Kapitals wirtschaftlich erschlossen werden. Voraussetzung hierfür war das Assoziierungsabkommen mit der EU, das Präsident Janukowitsch nicht unterzeichnen wollte. Dieser Schritt erfolgte nach Janukowitschs Sturz und Flucht durch den neuen Staatschef Petro Poroschenko im Sommer 2014. Das Abkommen sah Privatisierungen und Deregulierungen vor, unter anderem im Landwirtschaftssektor. Viele dieser Maßnahmen wurden in den folgenden Jahren, auch nach dem russischen Angriff im Februar 2022, umgesetzt.

Die Bundesregierung hat den Beitritt der Ukraine zur EU nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Sie wollte kein instabiles Land in dem Staatenverbund, das dann Anrecht auf finanzielle Hilfen und aufgrund seiner Größe ein nicht zu unterschätzendes politisches Gewicht in der EU hätte.

Ewige Kandidaten

An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Allerdings müssen die ukrainische Bevölkerung und Politik bei der Stange gehalten werden. Deswegen wurde die Ukraine im Juni 2022 zum EU-Beitrittskandidaten gekürt. Die Verhandlungen können sich über viele Jahre hinziehen und müssen nicht unbedingt abgeschlossen werden. So wurde die Türkei bereits 1999 offizieller Beitrittskandidat und hat bis heute keine realistischen Perspektiven für eine Aufnahme in die EU.

Der ukrainischen Regierung, die schnell in die EU und Nato will, bleibt zurzeit nichts anderes übrig, als sich mit Ankündigungen abspeisen zu lassen. Denn ihr Überleben ist abhängig von der Militärhilfe des Westens. Für die deutsche Politik gilt, dass die Kosten den Nutzen nicht übersteigen dürfen. In Kriegszeiten sind solche Berechnungen auch wegen der atomaren Bedrohung riskant. Sie würden nur aufgehen, wenn, wie in Berlin erhofft, der Krieg zu einer militärischen und politischen Schwächung des geostrategischen Konkurrenten im Osten führen würde.

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