Chile: Umkämpfte Erinnerung

Jahrzehnte nach dem Ende der Militärdiktatur ist die Deutungshoheit über die Gräueltaten noch nicht endgültig ausgemacht

  • Malte Seiwerth
  • Lesedauer: 9 Min.
Die trostlose Brücke »Bulnes« über den Mapocho in Santiago ist ein umkämpfter Erinnerungsort.
Die trostlose Brücke »Bulnes« über den Mapocho in Santiago ist ein umkämpfter Erinnerungsort.

Müll liegt am Fluss, Obdachlose haben mit Kartons und Holztafeln einfache Behausungen direkt am Ufer gebaut. Der Mapocho, Stadtfluss von Santiago – an normalen Tagen kaum größer als ein Bach – fließt unter der Brücke mit dem Namen »Bulnes« durch. Es ist ein trostloser Ort zwischen Autobahnen und dem braunen Wasser.

Aquiles Córdova zeigt auf einen kaputten Wäscheständer, der zwischen Haushaltsmüll liegt. »Schon vor 50 Jahren lag hier Müll und genau hier fand man die ersten Körper«, erinnert er sich, »in einem Fall hatten Hunde begonnen, die Leichen zu fressen.« An dieser Brücke erschossen das chilenische Militär und die Polizei in den ersten Monaten nach dem Putsch vom 11. September 1973 mehr als 300 Personen und warfen sie in den Fluss. Auch Córdova hätte es fast getroffen.

Heute, 50 Jahre später, kämpfen Menschen wie er dafür, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Das ist eine Herkulesaufgabe in einem Land mit einer aufstrebenden Rechten und einem Konflikt um die Deutungshoheit über die Gräueltaten der Diktatur und deren Bedeutung für die heutige Gesellschaft.

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Córdova geht über die Brücke, wo ein kleines weißes Kreuz an den Arbeiterpfarrer Joan Alsina aus Katalonien erinnert, der hier am 19. September 1973 erschossen wurde. Eine Wandmalerei zitiert die letzten Worte Alsinas. »Ermorde mich mit dem Blick zu dir, ich will dich sehen, um dir zu vergeben«, soll er dem Soldaten gesagt haben, als dieser ihm eine Augenbinde aufsetzen wollte, bevor er ihn erschoss. Der Soldat, der Jahre später die Geschichte erzählte, beging Suizid.

Am Ufer, unter verlassenen Eisenbahnbrücken, wurde eine kleine Gedenkstätte errichtet. Farbmalereien und Gesichter blicken auf die vorbeilaufenden Menschen. An manchen Stellen ist schwarze Farbe zu erkennen. Córdova erzählt: »Fast jedes Jahr zum 11. September wird der Ort verunstaltet.« Vor drei Jahren hätten Unbekannte die Wände mit schwarzer Farbe beschmiert.

Es war der Anstoß für ihn und weitere Genoss*innen, den Ort im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu renovieren. »Die Kacheln mit den aufgedruckten Gesichtern konnten wir nicht reinigen, sie wären kaputt gegangen«, erklärt Córdova. Er beginnt die Geschichten einzelner Opfer zu erzählen, die er und seine Mitstreiter*innen vom Comité Memorial Puente Bulnes gesammelt haben. Besonders berührt ihn die Geschichte einer schwangeren 14-jährigen Aktivistin, die am 12. Oktober 1973 umgebracht wurde. Ein Onkel holte später den Körper vom Leichenschauhaus ab. Doch als sich nach fünf Jahren niemand mehr um das Grab kümmerte, landete ihre Leiche in einem Massengrab.

Es sind Gräueltaten wie diese, über 3000 Tote und Verschwundene und knapp 30 000 Folteropfer, durch die die chilenische Militärdiktatur von 1973 bis 1990 grausame Berühmtheit erlangte. Und es sind das politische Projekt des demokratischen Sozialismus, das durch den Putsch beendet wurde, und die neoliberale Umgestaltung, die mit eiserner Hand durch Generäle und neoliberale Wirtschaftswissenschaftler*innen durchgesetzt wurde, die bis heute das Land spalten.

Zum 50. Jahrestag des Putsches finden in ganz Chile und in der Welt Gedenkveranstaltungen statt. Selbst beim Militär beginnt anscheinend eine kritische Aufarbeitung. Während die Luftwaffe Attrappen der Kampfjets, die während des Putsches das Regierungsgebäude La Moneda und die Armenviertel bombardierten, aus ihren Kasernen entfernen ließ, verkündete der Oberkommandant der Marine, die Streitkräfte hätten eine demokratische Verantwortung und dürften sich niemals für einen Putsch aussprechen. »Diese Vorkommnisse dürfen nie wieder stattfinden«, sagte er vor versammelter Presse.

Doch zugleich durchzieht das Land eine erschreckende Geschichtsverdrängung, wie die Politologin Marta Lagos anhand einer Studie bemerkte. Ihr Meinungsforschungsinstitut gab Ende Mai bekannt, dass 37 Prozent der Befragten den Staatsstreich von damals für gerechtfertigt hielten. Fast jede zweite befragte Person stimmte der Aussage zu, die Militärdiktatur habe »positive und negative Aspekte« gehabt.

Es zeige sich, so die Politologin, dass die demokratischen Kräfte versagt hätten, die Figur des Diktators Augusto Pinochet nachhaltig zu delegitimieren. Dadurch, dass Pinochet auf Lebenszeit Oberkommandant der Streitkräfte und Senator gewesen sei, hätte er den Übergang in die Demokratie ebenfalls vollzogen. Dies treffe auch auf wichtige Parteien und andere politische Figuren der Militärdiktatur zu, die bis heute in der Politik tätig seien.

Das sei aber nur ein Teil der Überbleibsel der Diktatur, findet Macarena Silva. »Sie lebt im Wirtschaftssystem und in der alltäglichen Polizeirepression«, sagt die Mitarbeiterin der Gedenkstätte Londres 38 bei einem Gespräch im Mai. Das Parlament hat ein Polizeigesetz angenommen, das Polizist*innen bei angeblicher Selbstverteidigung ermöglicht, Gewalt offensiver einzusetzen. Das Gesetz gilt rückwirkend. Mittlerweile wurden bereits Polizist*innen, die während der sozialen Revolte von 2019 auf Demonstrant*innen geschossen oder sie in der Haft verprügelt hatten, freigesprochen oder bekamen Hafterlasse. »Ein Freibrief zur Gewaltanwendung«, meint Silva.

Londres 38 ist eine selbstverwaltete Gedenkstätte, die im Stadtzentrum von Santiago liegt. Das Haus war während der Diktatur ein Folterzentrum. Im Jahr 2008 eröffnete die Organisation den Ort als Raum für Erinnerungen. Aber nicht nur das. »Dieser Raum ist auch jenen gewidmet, die für ein anderes Gesellschaftsprojekt gekämpft haben und deren Träume abrupt gestoppt wurden«, erklärt Silva.

Bis heute wirke die Diktatur im neoliberalen Wirtschaftssystem fort. »Ohne die Repression wäre es nicht möglich gewesen, die marktradikalen Reformen durchzusetzen«, ist sich Silva sicher. Deswegen soll der Platz auch jenen dienen, die heute gegen das Erbe der Diktatur kämpfen.

Die offizielle Geschichtsschreibung sieht das anders. Nach dem Ende der Diktatur sprach man über die Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur völlig getrennt von der Wirtschaftspolitik. Staatliche Berichte zur Aufklärung der Verbrechen widmeten sich ausschließlich der staatlichen Repression und schwiegen über die gleichzeitig durchgesetzten Reformen im Arbeitsmarktbereich, den Ausverkauf staatlicher Unternehmen und die Streichung staatlicher Sozialpolitik.

Der Historiker und Soziologie Tomás Moulian spricht von einer kapitalistischen Revolution, die die Gesellschaft neu geordnet habe und durch die sozialdemokratischen Regierungen in den 90er Jahren fortgesetzt worden sei. Symbol dieser neuen Politik sei ein Eisberg gewesen, den Chile im Jahr 1992 zur Weltausstellung von der Antarktis nach Sevilla gebracht habe. »Er repräsentierte eine neue Gesellschaft, geputzt, desinfiziert und gereinigt nach einer langen Reise durch das Meer. Im Eisberg gab es keine Spur von Blut oder Verschwundenen«, schreibt Moulian.

In den 90er und 2000er Jahren wurden unter der Ideologie des New Labour die marktradikalen Reformen fortgesetzt und vertieft: Chile wurde zum Weltmeister der Freihandelsabkommen, und der Staat privatisierte einen Großteil der letzten staatlichen Unternehmen, wie die Gütersparte des staatlichen Eisenbahnunternehmens und die öffentliche Wasserversorgung.

Mit der linksreformistischen Regierung von Gabriel Boric, die im März 2022 das Regierungsgeschäft übernahm, kam die Menschenrechtsaktivistin Haydee Oberreuter ins Amt der Staatssekretärin für Menschenrechte. Sie nahm sich vor, die Erinnerungskultur zu ändern.

An einem Nachmittag sitzt sie in einem Café im Zentrum von Santiago. Auf der Straße protestieren Schüler*innen und es riecht nach Tränengas. Sie erzählt: »Wenn ich an den Putsch denke, dann kommen mir die Gesichter jener Menschen in Erinnerung, die mit der Regierung Allende zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl hatten, dass sie Protagonisten der Geschichte sind, dass sie nicht mehr unsichtbar sind.« Sie hat Tränen in den Augen und meint scherzhaft, dass sei dem Tränengas geschuldet.

Die 69-jährige Oberreuter, die selbst während der Militärdiktatur verfolgt und gefoltert worden war, wollte in ihrer Amtszeit diese Geschichte in den Vordergrund rücken, die Geschichte der Menschen, die für eine sozialistische Gesellschaft in Chile kämpften und dafür hart bestraft wurden. »Und obwohl man tausendmal probiert hat, es wegzufegen, lebt das Lächeln dieser Menschen in ihren Kindern und Enkelkindern weiter«, meint sie mit einem hoffnungsvollen Blick, während sie die protestierenden Schüler*innen betrachtet.

Oberreuter setzte sich auch für die Opfer der Repression der Revolte von 2019 ein, als Millionen von Menschen gegen die Auswirkungen des Neoliberalismus und die rechte Regierung von Sebastián Piñera auf die Straße gingen. Weiterhin sitzen Menschen wegen des Vorwurfs der Sachbeschädigung im Gefängnis. Mehr als 400 Personen verloren aufgrund von Schüssen der Polizei ein Auge oder erblindeten vollständig. Die existierenden Hilfsprogramme werden von Opferorganisationen als unzureichend oder quasi nicht existent bezeichnet.

Für Oberreuter kam alles anders als geplant. Im März wurde sie abgesetzt, eine offizielle Erklärung gab es dafür nie. Sie spricht fast schon erleichtert aus: »Endlich kann ich wieder sagen, was ich will.« In ihr Amt zog mit Xavier Altamirano die alte Garde der chilenischen Sozialdemokratie. Altamirano steht der ehemaligen Präsidentin und Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet nahe.

An der Brücke Bulnes blickt Cordóva derweil auf die Wand, von der Gesichter der Ermordeten auf die vorbeilaufenden Menschen blicken. Die Wand wurde 2007 eröffnet. »Aber die Künstler hatten keine Verbindung zu den Organisationen, die hier ihrer verschwundenen Genossen gedenken«, erzählt Córdova. Dies sei typisch für die Erinnerungspolitik der Regierungen. Man gedenke von oben, ohne mit den Basisorganisationen in Verbindung zu stehen.

Viel Hoffnung auf Wandel hat Cordóva derzeit nicht. Dies liege auch an den jungen Generationen, meint er enttäuscht. »Sie haben zu wenig Ausdauer und ihre Arbeit zeichnet sich nicht durch Kontinuität aus.« Dabei erinnert er sich an seine Jugend, als er als Schüler während der sozialistischen Regierung von Salvador Allende in einer revolutionären Basisorganisation aktiv war. Am Tag des Putsches versammelten sie sich, um bewaffneten Widerstand zu leisten. Doch die Waffen kamen nicht. Denn entgegen dem lauten Getöse der Wortführer, die dazu aufriefen, die Revolution militant zu verteidigen, gab es überhaupt keine Waffen.

Niedergeschlagen ging er am 12. September vom Stadtzentrum in die Arbeitersiedlung, in der er bis heute lebt. Es galt die Ausgangssperre und so bewegte er sich vorsichtig von Wand zu Wand. Für die letzten Meter musste er über die Brücke Bulnes am Mapocho. Dort angekommen, ertappte ihn eine Patrouille. »Zwei blutjunge Soldaten und ein Vorgesetzter richteten ihre Maschinengewehre direkt auf mich«, erzählt Córdova. »Ich wartete auf den Schuss, doch da kam nichts.« Die Soldaten ließen den Schüler mit den Worten »Du hast uns nie gesehen« weiterlaufen. Heute erzählt er die Geschichte, die mit dem Wunsch einer besseren Gesellschaft begann und mit brutaler Gewalt endete.

Die Brücke ist mittlerweile zu einem heiligen Ort geworden. »Ich bin nicht religiös«, sagt er lachend und zeigt auf eine Tafel, »aber ich kann die Befreiungstheologie gut verstehen«. Der Pfarrer Joan Alsina vertrat die Interpretation der Bibel, die Jesus als einen frühen Kommunisten sah. Neben einer Tafel sind Danksagungen angebracht, auf einer steht: »Joan Alsina, Heiliger und Beschützer der Verschwunden und Verfolgten.«

Bilder der Ermordeten
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