- Berlin
- Lohnraub
Geschäftsmodell Mindestlohnbetrug
In Berlin steigt die Zahl der Mindestlohnverstöße, Zollkontrollen sind selten und in ihrer Wirkung begrenzt bis fragwürdig
186 Ordnungswidrigkeitsverfahren aufgrund von Mindestlohnverstößen hat das Hauptzollamt Berlin im Jahr 2022 eingeleitet. Das geht aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Bernhard Daldrup (SPD) hervor. 2021 waren es 154 Verfahren gewesen. Die aufgrund der Verstöße eingetriebenen Gelder, darunter Verwarnungs- und Bußgelder, gingen in dem Zeitraum von 326 000 auf 270 000 Euro zurück.
Hivzi Kalayci ist Gewerkschaftssekretär der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Berlin. Als solcher überblickt er das Baugewerbe. Er sagt zu »nd«: Der Großteil der tatsächlichen Verstöße könne gar nicht festgestellt werden, weil die Anzahl der Kontrollen viel zu gering sei. Das wiederum liege an einer Unterbesetzung der Behörde. Die Gewerkschaft fordert daher die Zahl der 7000 Zöllner*innen bei der zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) auf 16 000 aufzustocken.
Kalayci deutet auch auf den Berliner Senat. Zwar sei es positiv, dass durch das Tariftreuegesetz in Berlin mittlerweile Firmen, die öffentliche Aufträge übernähmen, sich an branchenübliche Tarifverträge halten müssten. Doch durch die wenigen Kontrollen sei unklar, inwieweit das Gesetz zum Beispiel auf Baustellen eingehalten werde.
»Der Verstoß gegen Mindestlohnzahlungen ist häufig ein Geschäftsmodell. Für die Einhaltung des Mindestlohns haben die Kontrollen des Zolls keine disziplinierende Wirkung«, sagt Michael Wahl. Er arbeitet als Berater und als Koordinator für Internationalen Straßentransport für das gewerkschaftsnahe Beratungsnetzwerk Faire Mobilität. Ihm zufolge bräuchte es eine andere Art von Kontrollen und davon mehr. Und er sagt: »Der Verstoß müsste ein Straftatbestand sein.«
Zahlen Arbeitgeber*innen ihren Beschäftigten weniger als den Mindestlohn, ist das zunächst eine Ordnungswidrigkeit, für die ein Bußgeld zu zahlen ist. Ein möglicher Straftatbestand besteht nur nach Paragraf 266a Strafgesetzbuch, nämlich für das Nichtabführen von Sozialabgaben.
Die rechtliche Priorisierung der steuerzahlenden Allgemeinheit vor der geprellten Arbeitnehmer*in schlägt sich laut Wahl auch in der Praxis der FKS nieder: »Der Zoll treibt keine Löhne, nur Steuern und Sozialabgaben ein.« In Österreich bekämen die betroffenen Arbeitnehmer*innen wenigstens einen Hinweis, wenn ein Verstoß habe ermittelt werden können, und darauf, dass sich eine Lohnklage vor dem Arbeitsgericht vermutlich lohne.
Kommt es zu Kontrollen von Arbeitsstellen, heißt es in anschließenden Pressemitteilungen oft, dass auch Verfahren gegen Beschäftigte eingeleitet worden seien. »nd« fragte dazu das Berliner Hauptzollamt, inwieweit die Beamt*innen gezwungen seien, Verstöße nicht nur von Arbeitgeber*innen, sondern auch von Arbeitnehmer*innen zu melden und gegebenenfalls weitere Ermittlungen einzuleiten. Die Antwort: Während die weitere Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im Ermessen der jeweiligen Beamt*in läge, bestehe bei »zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Straftat die Verpflichtung«, ein Strafermittlungsverfahren einzuleiten.
Kalayci von der IG BAU hält diese doppelte Wirkung der Zollkontrollen für unzumutbar. Es sei jedoch nicht nur die Strafverfolgung, die Beschäftigte davon abhalte, auf Mindestlohnverstöße aufmerksam zu machen. »Es sind auch die Arbeitgeber, die mitunter die Beschäftigten und ihre Familien in ihrer Sicherheit bedrohen.« Für eine mögliche Gesetzesänderung hält er den DGB für zuständig, der politisch in diese Richtung wirken könne. »Als Gewerkschaft geht es uns nicht in erster Linie um den Mindestlohn, sondern um armutsferne, flächendeckende Tariflöhne«, sagt Kalayci.
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